Manfred Naumann (1925 – 2014)

Rede auf der Trauerfeier in Wandlitz, 6. September 2014

Bei seiner Beisetzung zu sprechen, hat mein Lehrer, langjähriger Chef und Nachbar mich schon vor einiger Zeit gebeten. Sein Verhältnis zu diesem Ereignis war wohl so diesseitig, wie der Artikel “Tod” es beschreibt, den er vor mehr als vierzig Jahren in seine Auswahl aus der Encyclopédie nicht aufgenommen hat. Der Chevalier de Jaucourt führt dort seine inzwischen ein Vierteljahrtausend alte Überlegung zu diesem Teil der “Naturgeschichte” zu einem Zitat und einer abschließenden Maxime: “Der Tod, sagte Cato, kann nie zu früh kommen für einen ehemaligen Konsul, nie Verhängnis oder Schimpf sein für einen tugendhaften Mann und nie ein Unglück für einen Weisen. Warum also soll man den Tod fürchten, wenn man gut genug gelebt hat, um die Folgen des Lebens nicht zu fürchten?”

Manfred Naumann ist am 21. August um 19:45 Uhr zu Hause in Wandlitz in den Armen seiner Familie gestorben. Sein Tod war nicht leicht, aber – berichten die, die ihm beistanden – die Qualen hielten sich in Grenzen. Die schwere Krankheit, die seine letzten Jahre zunehmend mitbestimmte und der er bis in die letzten Tage trotzig zu widerstehen suchte, hat ihr Ende mit seinem Leben gefunden.

Geboren wurde Rudolf Manfred Naumann, wie der Geburtsschein des Standesamtes Chemnitz III festhält, in dieser Stadt am 4. Oktober 1925 als Sohn von “Hedwig Elisabeth Naumann, unverehelichte Strumpflegerin”. Das Formular sah für die Mutter eigentlich nur die Mitteilung von Vor- und Zunamen vor, die Angabe des “Standes” blieb dem Vater vorbehalten. In diesem Fall war dort aber nur ein Schrägstrich einzutragen. In solchen Verhältnissen begann das Leben des Mannes, um den wir heute trauern, aber auf den Austausch mit dessen (im alten Sinne) Witz und Wissen wir in der Erinnerung und in den Texten, die von ihm bleiben, über diesen Abschied hinaus weiter zählen können. Seiner Mutter, erinnerte er sich später, verdanke er Geborgenheit und Vertrauen. Das Maß, nach dem er lebte, hatte er im Grunde selbst zu bestimmen.

Biographische Notizen, die vor einigen Jahren aus administrativem Anlass entstanden, nennen die äußeren Stationen des Weges, den Manfred Naumann einschlug: das Notabitur an einer Oberrealschule, den Kriegsdienst als Panzergrenadier im Unteroffiziersrang, die Tätigkeit als Neulehrer ohne Ausbildung und dann (das Jahr als Student des Englischen und Französischen an der Pädagogischen Fakultät bleibt unerwähnt) “ab Herbstsemester 1947 Studium der Romanistik, Anglistik, Pädagogik und Philosophie” an der Universität Leipzig. Nur zehn Jahre später – alle erforderlichen akademischen Examina sind absolviert – ist aus dem Studenten der Professor für Romanische Philologie in Jena geworden. Werner Krauss, Ernst Bloch, Hans Mayer und Walter Markov nennt er als seine Lehrer – zwei Exilanten und zwei Häftlinge; einer, den die SED, und einer, den seine Universität nicht mehr erträgt; zwei, die die DDR verlassen; und Krauss, der bleibt und doch herausragt. Wenig später wird der junge Professor einer geistigen Agentengruppe zugerechnet, darf aber – Schizophrenie des Systems – in Leipzig Lehrer weiterbilden. Nach zwei Jahren meinen die Instanzen, er habe sich bewährt. Er kehrt zurück an Universitäten und ist zunächst in Rostock für französische Literatur, dann in Berlin für Kultur- und Literatursoziologie mit besonderer Berücksichtigung des romanistisch-germanistischen Bereichs zuständig. Von 1969 an prägt er wesentlich das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der erst Deutschen, bald DDR-Akademie der Wissenschaften, bis zum Jahr 1990 und der Emeritierung – wie er festhält – “auf Grund der Erreichung der Altersgrenze” (nicht also, weil er nicht mehr tragbar gewesen wäre): in der Gründungsphase als Leiter des Bereichs für theoretische und methodologische Probleme, dann als stellvertretender Direktor und in weiteren Funktionen, seit 1981 als Direktor. Nach dem Ende der DDR und ihres Wissenschaftssystems, darunter seines Instituts, ist er einer der wenigen aus dem vergangenen Staat, die in Struktur-, Berufungs- und Wahlgremien an der Gestaltung der Geisteswissenschaften im neuen Osten der Bundesrepublik beteiligt werden. 1994 wird er Außerordentliches Mitglied jener Akademie, die das Gebäude bezogen hat, in dem er zuvor fast fünfzehn Jahre lang einer anderen Akademie schon einmal ordentlich angehörte. Als erstes seiner “wissenschaftlichen Hauptarbeitsgebiete” nennen die Notizen am Ende die “Geschichte der französischen Literatur, speziell der Aufklärung und des 19. und 20. Jahrhunderts”, danach erst “theoretische Probleme der Literaturrezeption”, dann gesondert die deutsch-französischen Literaturbeziehungen um 1800 und “Stendhal-Studien”, schließlich die “Geschichte der Literaturwissenschaften, speziell der Romanistik, in der DDR”.

Man kann diesen Weg, alles in allem, einen Aufstieg nennen, und dass der aus Leistung erwuchs, wissen alle, die Manfred Naumann begegneten oder ihn lasen. Die Erinnerungen an ihn werden sich unterscheiden – je nach den Positionen, auf denen man ihn traf: Naumann war fähig, der Forderung zu entsprechen, dass das Innere stets “noch einmal soviel sein muß als das Äußere” (so übersetzte Schopenhauer Gracián), und er setzte diese Reserven variabel ein. Wer bei ihm an dem Akademie-Institut arbeitete, kann sich zum Beispiel erinnern, wie Naumann ein neues Nachdenken über die Geschichte und Theorie literarischer Widerspiegelung solidarisch mit in Bewegung setzte, sein Wissen um den kritischen Realismus in Frankreich dann aber nicht in den Dienst einer gedruckten “Diskussion über Grund-Sätze der marxistischen Literatur- und Kunstkonzeption” stellte, sondern einem Buch über Prosa in Frankreich vorbehielt. Er kann an die Losung der “Einheit von Politik und Wissenschaft” denken, die Naumann in bedrängender Lage verkündete und so humboldtianisch wie schlitzohrig in dem Sinne anwendete, dass der Politik am besten gedient sei, wenn die Wissenschaft sich entfalte. Ihm bleibt ein Forschungskonzept zum “Umgang der Gesellschaft mit Literatur in seiner geschichtlichen Veränderung” gegenwärtig, das im Anschluss an Gesellschaft – Literatur – Lesen in der Theorie weit ausgriff, in seinen geschichtlichen Dimensionen aber vorsichtig nur auf den Kapitalismus bezogen werden sollte, und das das Institut nicht aufnahm. Er kann würdigen, dass Leitungssitzungen wieder primär der Diskussion laufender Forschungsprojekte gewidmet wurden und Vollversammlungen ihren Höhepunkt in Vorträgen fanden, die vorrangig jenen Arbeiten galten, die nicht in den zentralen Plänen standen. Er wird nicht vergessen, wie der Direktor den Verstoß eines Reisekaders gegen Verhaltensregeln in der geforderten Weise verurteilte und sogleich dem weit und breit erfahrensten Bibliographen das Wort erteilte, um den Westreisenden (deren privilegierten Kreis auszudehnen er bemüht war) nützliche Hinweise zum Arbeiten in der Westberliner Staatsbibliothek zu geben. Er wird weiter darüber nachdenken, wie begründet der Dissens mit denen war, denen an der Potenz der Literaturwissenschaft zur Kritik der sie umgebenden Kulturpolitik lag. Und er wird nochmals den Moment genießen, in dem Naumann dem übergeordneten Leiter, der ihm wortreich erläutert hatte, wo der Klassenstandpunkt gerade lag, von oben herab nur erwiderte: “Aber lieber Genosse, das wissen wir doch alles.” Wie auch immer im einzelnen – intensiv, das lässt sich wohl sagen, hat Manfred Naumann alle angeregt, die ihm begegneten.

Die Maximen, nach denen er handelte, hat er im Alter als Frucht einer von Krauss gelenkten Gracián-Lektüre als Fünfundzwanzigjähriger bezeichnet. Noch eine spät gekaufte Ausgabe des Handorakels trägt seine Striche in der dritten Maxime, “Über sein Vorhaben in Ungewißheit lassen”: “Behutsames Schweigen ist das Heiligtum der Klugheit.” Auch Stendhal hat er dafür gemocht, Masken und sein Herz nicht auf der Zunge zu tragen. So werde, hatte er bei Werner Krauss gelesen, ein “Schwebezustand […] denkbar, in dem man sich über einem als bodenlos wahrgenommenen Dasein behauptet”. Der Satz, geschrieben unter unmittelbarer Todesdrohung, schien auch in weniger extremen Situationen, die der Einzelne zu ertragen hat, Leben zu lehren.

Aber hat Manfred Naumann von Gracián wirklich nur die Maximen des Selbstschutzes übernommen? Dann hätte er – “kühl und sublim”, wie Krauss den Jesuiten charakterisierte – sich von diesem noch entleihen können: “Gute Muße ist besser als Geschäfte”, und: “Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen läßt, daß er ein Mensch sei.” Und Stendhals erste Frage in den Erinnerungen eines Egotisten wäre seine letzte gewesen: “Habe ich den größtmöglichen Gewinn für mein Glück aus den Verhältnissen gezogen, in die mich der Zufall […] versetzt hat?” Aber Selbstbespiegelung des Ich galt ihm als verachtenswert. Tagebuch hat er nie geschrieben. Auch genoss er die Anerkennung durch andere. Und nicht einmal den Sicherheitsorganen gegenüber hat die Maske etwas ausgerichtet: Mehr noch als wegen der festgehaltenen Auffassungen ehren deren Berichte ihn ja dadurch, dass es sie gibt – weil er letztlich eben doch, und nicht nur den engsten Freunden, zu verstehen gab, woran man bei ihm war.

Denn er hatte bei Gracián nicht nur gelesen: “Alle Dummen sind verwegen.” Sondern auch den Gegengedanken angestrichen: “Ohne Mut ist das Wissen unfruchtbar.” Er schwebte nicht über den Verhältnissen und war auch nicht einfach in sie versetzt: er war sie – bei aller kritisch gewordenen Distanz – selbst eingegangen. So hatte er durchaus Verständnis für enthusiastischere, in Maßen sogar für naivere Lebenslehren als seine, und ebenso dafür, sich nicht auf die Devise zu begrenzen: “Man wolle, wenn man kann”, sondern aus¬zuscheren. Ergebenen und hinterhältigen, untätigen und einfältigen Haltungen gegenüber konnte er abweisend sein, und auch Fäden hinter der Bühne vermochte er zu ziehen. Für sein eigenes praktisches Handeln aber galt letztlich nochmals Gracián: “Mitmachen, soweit es der Anstand erlaubt.” Für die Grenze hatte er ein Gespür.

Hinzu jedoch kamen – und da liegt die wichtigste Leistung – das Tätigwerden in der Wissenschaft über Literatur und das Begreifen ihrer Produkte als, wiederum mit Krauss, “Gestaltungen jeweiliger Daseinsproblematik, die […] als Botschaften von jemandem vernommen sein wollen”. Der Reichtum an Beobachtungen, Wissen und Gedanken wie die Sprache seiner Texte gewannen ihren klaren Stil aus dem Bemühen, Botschaften gestalteten fremden Daseins dem Leser so intensiv zu übermitteln, dass dessen eigenes reales Leben ins Licht gerät. In diesen Arbeiten bestimmen nicht mehr Gra¬cián, sondern die Aufklärung und Marx. Die frei formulierten Lebenslehren finden sich, fast unmaskiert, unter dem Namen von Autoren – wie in dem von ihm geprägten Lexikon der französischen Literatur: natürlich Stendhals “dem Kunstgenuß, der Liebe, der Glückssuche, dem geistreichen Gespräch, der Menschenbeobachtung gewidmete Lebenspraxis”, aber auch Montaignes Denken, “das von Skeptizismus gegenüber dogmatischen Wahrheitsansprüchen und Kritik an den überlieferten Lehrmeinungen geprägt war”, oder die “humanitäre, in der antiklerikalen Tradi¬tion der Aufklärung wurzelnde, epikureische, leicht skeptisch getönte Grundhaltung” von Anatole France, zu dem außerdem der Wandel von der “Utopie einer neuen sozialen Ordnung” zu “stärkeren Zweifeln am möglichen Sieg der Vernunft und des Wissens über die in der Geschichte und der menschlichen Natur wirksamen Kräfte der Destruktion” hervorgehoben wird. Manfred Naumann gehört noch zu jenen, deren Wissenschaft durch ihre Persönlichkeit geprägt ist.

In den letzten Sätzen des Nachrufs auf seinen Gefährten Werner Mittenzwei – des letzten Textes, den er veröffentlicht hat – teilt er mit, wie er versucht habe, dessen Schmerz über das nicht Erreichte zu mildern: “Der ‘Sinn der vergangenen Zeit’ sei doch gerade darin zu finden, dass es in der DDR Intellektuelle wie ihn gegeben habe, denen es dank ihres an Marx geschulten Denkens gelungen sei, den offiziellen Dogmen – im Osten wie im Westen – zu widerstehen. Ich glaube nicht, dass ihm das genügte. Aber wir bleiben miteinander verbunden.” So können wir auch Manfred Naumann weiter begegnen. Die Gegenstände, über die er geschrieben hat, greifen hinaus über die Zeit, in der er gelebt hat, und keineswegs nur auf das Ungenügen des Sozialismus hat sein skeptischer Blick sich gerichtet. Sein Wissen und seine Art zu genießen, das Maß seiner Verstellungskunst und das Maß seines Mutes formen einen Anspruch an das Leben, an dem wir unseren eigenen prüfen können.

Gedenken wir Manfred Naumanns. Er hat gut gelebt. Wir bleiben verbunden.

Wolfgang Klein

Beitrag von: Lars Schneider

Redaktion: Lars Schneider