Am 10. August dieses Jahres verstarb im Alter von 82 Jahren der Romanist Ludwig Schrader. Mit ihm gedenkt die Romanistik eines Kollegen, der als akademischer Lehrer und Forscher stets eine umfassende romanistische Literaturwissenschaft verkörperte. Er beherrschte die drei großen Sprachen der Romania bestens und arbeitete ebenso über französische wie spanische, lateinamerikanische und italienische Literatur und Kultur.
Am 11. März 1932 in Dresden geboren, studierte Ludwig Schrader in Hamburg, Murcia und Bonn, vor allem beim 1992 verstorbenen Walter Pabst, als dessen Schüler er sich immer verstand. Bei ihm wurde er 1958 in Bonn promoviert, bei ihm arbeitete er später an der FU Berlin als Assistent. Nach seiner Habilitation im Jahr 1967 nahm er zum Winter 1968/69 einen Ruf nach Düsseldorf an, wo er als erster Romanist des neu gegründeten Romanischen Seminars wirkte und wenig später erster Dekan der gleichfalls neuen Philosophischen Fakultät wurde. Seine Erfahrungen konnte er nach der Wende in die Mitwirkung am fächerübergreifenden Aufbau des Instituts für Romanistik an der Universität Rostock einbringen.

Ludwig Schrader war spätestens seit seinem Lektorat in Toulouse (1958/59) der Literatur und Kultur Frankreichs eng verbunden, nicht minder prägte sein Schaffen die Liebe zu Spanien und Lateinamerika, was sich nicht zuletzt in Gastprofessuren in Guatemala (1990) und Argentinien (1993) widerspiegelt. Schrader war in den 70-er Jahren Gründungsmitglied des Deutschen Hispanistenverbands, dessen Vorsitz er vier Jahre innehatte und für den er mehrere Tagungen organisierte ‒ so etwa das Kolloquium zu Augusto Roa Bastos (1982). Neben Forschung, Lehre und Verwaltung pflegte Ludwig Schrader eine rege publizistische Tätigkeit. Als Mitherausgeber von Sammelbänden zur romanistischen und vergleichenden Literaturwissenschaft, von Buchreihen und Zeitschriften (Grundlagen der Romanistik, Studienreihe Romania; Lettres Romanes, Antike und Abendland) war es ihm ein Anliegen, Grundlagen und neue Perspektiven seiner Fachwissenschaft dem studentischen und akademischen Fachpublikum zugänglich zu machen. Nach einer schweren Erkrankung im Juni 1994 ließ er sich 1995 vorzeitig entpflichten und zog sich, bedingt durch den Verlust seiner Lese- und Schreibfähigkeit, weitgehend aus dem akademischen Leben zurück.

Schon die Dissertation Panurge und Hermes. Zum Ursprung eines Charakters bei Rabelais weist auf thematische Schwerpunkte voraus, die einen Großteil seiner weiteren Forschungen prägen: ein tiefes und lebendiges Interesse an der Kultur von Renaissance und Humanismus sowie der Rezeption antiker Mythologie, das Selbstverständnis von Literatur und die beharrliche Frage nach den Möglichkeiten von Deuten und Verstehen. Schrader greift diese enge Verknüpfung noch einmal in seinem umfangreichen Aufsatz „Rabelais und die Rezeption der Antike. Deutungs-Probleme im Humanismus“ (1980) auf. Neben zahlreichen weiteren Arbeiten, etwa zum Humanismus oder zur Lyrik der französischen Renaissance und des spanischen Siglo de Oro, vor allem zu Funktion und Verständnis von Mythen, ist eng hiermit verknüpft auch die von ihm neu herausgegebene und umfassend kommentierte Rabelais-Übersetzung von Gottlob Regis (1964).

Es gibt in Ludwig Schraders wissenschaftlichem Œuvre keine Epoche zwischen Spätmittelalter und 20. Jahrhundert, mit der er sich nicht auseinander gesetzt hätte. Dennoch empfand er eine besonders lebhafte Affinität zur Moderne. Hierfür steht u.a. die 1969 gedruckte Habilitationsschrift Sinne und Sinnesverknüpfungen. Studien und Materialien zur Vorgeschichte der Synästhesie und zur Bewertung der Sinne in der italienischen, spanischen und französischen Literatur, die einige Jahre später (1975) auch in spanischer Sprache erschien. Wenn in Schraders Renaissancestudien immer wieder die Bedeutung der frühen Neuzeit für die Moderne gesucht wird, so wird noch nachdrücklicher die moderne Literatur ‒ die Lyrik oder der Roman Frankreichs, Spaniens und vor allem der lateinamerikanische Roman des 20. Jahrhunderts ‒ auf die in ihr zu Tage tretenden kulturellen und gesellschaftlichen Symptome von „Modernität“ befragt, gerade auch dann, wenn es wiederum um Mythen, um die Möglichkeiten des Verstehens, um das Selbstverständnis von Literatur geht.

Die Bemühung um die enge Verknüpfung einer philologisch-historischen Perspektive auf literarische Texte mit grundsätzlichen, aktuellen Fragen prägten Ludwig Schrader auch als akademischen Lehrer. Die Fähigkeit zu genauestem Lesen wollte er seinen Studierenden ebenso nahebringen wie die zu einem weiten, die Epochen und Literaturen überschreitenden Blick. Es lag ihm viel daran, das Bewusstsein zu vermitteln, dass seine Vorlesungen und Seminare seinen unmittelbaren Forschungsinteressen entsprangen, gleichzeitig aber auch dem Bewusstsein einer humanen Werteordnung verpflichtet waren. Immer verband er den hohen Anspruch, den er auch und vor allem an sich selbst stellte, mit Wohlwollen, Geduld und einer fast väterlichen Ausstrahlung.

Dass Ludwig Schrader viel zu früh vom akademischen Leben zurücktreten musste, haben viele seiner Kollegen und Schüler als einschneidenden Verlust empfunden. Zu seiner Wahlheimat, die er schon in seiner Jugend lieben gelernt hatte, machte Ludwig Schrader das ostfriesische Jever, wo er die letzten anderthalb Jahrzehnte, zusammen mit seiner Ehefrau und in engem Kontakt mit Familie und Freunden, lebte.

Karl Hölz (Trier)
Siegfried Jüttner (Duisburg)
Rainer Stillers (Marburg)
Christoph Strosetzki (Münster)

Beitrag von: Rainer Stillers

Redaktion: Christof Schöch