Littératures indianocéaniques (Sonstiges Projekt)

(Ent-)fremd(et)e und periphere Blicke auf Stadt-Kultur-Räume in der frankophonen Literatur des westlichen indischen Ozeans


Allgemeine Angaben

Projektbeginn
Mittwoch, 29. September 2010
Projektende
Samstag, 02. Oktober 2010
Status
abgeschlossen
Weiterführender Link
http://www.uni-due.de/imperia/md/content/romanistik/frankoromanisten-sektionen_2-12-09.pdf
Thematik nach Sprachen
Französisch
Disziplin(en)
Literaturwissenschaft
Schlagwörter
Frankophonie, Indischer Ozean, Postkolonialismus, Raumtheorie, thirdspace, coolitude, pensée archipélique

Aktiv beteiligte Person(en)

(z.B. Kooperation, Mitarbeiter, Fellows)

Marina Ortrud HertrampfMagdalena Silvia Mancas


Exposé

In den letzten Jahrezehnten definiert sich das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Raumtheorie neu. Nicht nur weil die Literaturwissenschaft sich verstärkt der Raum- bzw. der Stadtdarstellungen in literarischen Texten zugewandt hat, sondern auch weil in fast allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen eine unübersehbare Renaissance raumtheoretischer Fragestellungen zu konstatieren ist, die u.a. auf die Veränderung städtischer Entwicklungen und symbolischer Bedeutungsgehalte städtischer Räume als Folge der postmodernen Urbanisierung zurück zu führen ist.

Raumerfahrung und Lesbarkeit des Raumes spielen auch im Bereich der frankophonen postkolonialen Literatur eine bedeutsame Rolle. Als wesentliches Strukturierungselement von postkolonialen Kulturen wird Raum im Zusammenhang mit der Problematik der Identitätsbestimmung und Identitätsstiftung betrachtet. Begriffe wie „Kreolisierung“, „Hybridisierung“, „Peripherie“, „Multikulturalität“, die zur Überwindung des linearen, analytisch-zentristischen Denkens des Westens konzeptualisiert worden sind, bilden für kulturgeographische und/oder raumsoziologische Ansätze eine fundamentale Basis. So wird Raum im Kontext der Postkolonialismus-Debatte als relationale Kategorie im Sinne eines wandelbaren, dynamischen und sozial konstruierten Kontinuums verstanden (Martina Löw), das im transkulturellen Raumkonzept von Edward Soja ein „trialectical thirding-as-Othering“ erfordert. Eng verbunden mit der Hybridisierung und Homi Bhabhas Konzept des third space ermöglicht Sojas Begriff vom thirdspace die Betrachtung der Räumlichkeit als drittem wichtigen Aspekt in der Ontologie des menschlichen Daseins, neben Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit.

Die Inselgruppen vor der Ostküste Mosambiks im westlichen indischen Ozean (Komoren, Mayotte, Mauritius, Madagaskar, La Réunion, Seychellen) stellen in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar. Die urbanen und ländlichen (Kult-)Ur-Räume der ehemals französisch respektive britisch kolonialisierten Inseln wurden durch verschieden Völker und Ethnien strukturiert. Doch trotz aller Heterogenität hinsichtlich der ethnischen, religiösen und sprachlichen Charakteristika der vorkolonialen einheimischen Inselkulturen einerseits und ihrer Kolonialisierungs- und Dekolonialisierungsgeschichten andererseits, weisen die îles indianocéaniques einige entscheidende Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten auf. Neben dem sprachlich-kulturellen Phänomenen von Heterokultur und métissage, liegt ein weiteres Verbindungsglied in der Insellage, die zu einer Vervielfältigung des kolonialen Hierarchieverhältnisses von Zentrum und Peripherie führt: So spiegelt sich das Dichotomieverhältnis zwischen europäischen Festland-Metropolen als administrativen, ökonomischen und kulturellen Ausgangszentren kolonialer Neugründungen und kolonialen Peripherien in Übersee, in den intra-insularen Spannungsverhältnissen von urbanen, metropolitanen Zentren und einem peripheren Nebeneinander von in sich polyzentrisch organisierten, indigenen Kulturräumen. Diese Formen multipler Verortungen werden von dem Kulturtheoretiker und Schriftsteller Khal Torabully als Manifestationen der coolitude erfasst. In Anlehnung an Édouard Glissants pensée archipélique versteht die coolitude die insularen räumlichen Dynamiken vor dem Hintergrund einer Poetik der Relation „sans centre prédominant“. Sie ermöglicht das Entstehen unendlich vieler Betrachtungsperspektiven, wobei nicht nur die Erfahrungsmethoden relevant sind, sondern auch die Art und Weise, wie die verschiedenen Raumwahrnehmungen in literarischen Texturen aufgebaut werden.

Zu unterscheiden sind prinzipiell zwei Sichtweisen: Da ist zum einen die externe Perspektive, d.h. der (eurozentrische oder metropolitane) Blick von Frankreich aus auf die peripheren Inselräume in Übersee. Im Mittelpunkt steht hierbei vor allem die Konfrontation französischer Reisender mit dem Fremden und Exotischen (Französische Reise- und Kolonialliteratur). Ganz anderes gestaltet sich hingegen der Blick repatriierter, im indischen Ozean sozialisierter Franzosen einerseits und nach Frankreich emigrierter Einheimischer andererseits. Bei dieser Form der französischen bzw. frankophonen Exilliteratur manifestiert sich ein ent-/verfremdeter Blick auf alte Heimat, der sich mitunter in postkolonial verzerrten „imaginären Geographien“ (Edward W. Said) niederschlägt. Der Effekt der Perspektivverschiebung ergibt sich dabei aus dem Kontakt bzw. der Vermischung von „peripherem Blick“ (Dieter Ingenschay) und metropolitanem Blick. Neben der (externen) Betrachtung vom europäischen Zentrum aus, kann die literarische Darstellung auch aus der internen Perspektive erfolgen. Gemeint ist damit der Blick auf das eigene Land bzw. auf das Land, in dem man lebt, also der periphere Blick auf die Peripherie selbst. Zu differenzieren ist hier zwischen niedergelassenen und in der Fremde heimisch gewordenen Kolonisatoren (französische Kolonialliteratur) und der frankophonen Inselliteratur der Einheimischen. In dieser komplexen Dynamik von betrachtetem Raum und Betrachtenden bieten u.a. die Analysemethoden der géocritique (Bertrand Westphal) die Möglichkeit, verschiedene Texte, die auf den selben Ort referieren, vergleichend zu untersuchen.

Das Erkenntnisinteresse der Sektion besteht darin, die Vielfalt literarischer Konzeptionen und Darstellungsweisen von Stadt und Land im frankophon geprägten Raum des westlichen indischen Ozeans aufzuzeigen und die verschiedenen Facetten und Blickwinkel miteinander ins Gespräch zu bringen und zu diskutieren. Das Analyseinteresse kann sich sowohl auf die Konzeption und Darstellung einzelner urbaner bzw. peripherer Räume zu bestimmten Zeiten richten als auch auf die Verschiebungen und Veränderungen ausgewählter Räume, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben.


Anmerkungen

Literaturwissenschaftliche Sektion auf dem 7. Kongress des Frankoromanistenverbandes zum
Rahmenthema: „Stadt – Kultur – Raum“

Ersteller des Eintrags
Marina Ortrud Hertrampf
Erstellungsdatum
Mittwoch, 05. November 2014, 15:25 Uhr
Letzte Änderung
Mittwoch, 05. November 2014, 15:25 Uhr