Stadt: München

Frist: 2017-07-01

Beginn: 2017-11-23

Ende: 2017-11-24

Dem Nähe/Distanz-Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985; 2011) war in der deutsch- und romanischsprachigen Linguistik der letzten drei Jahrzehnte eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte beschert (Koch/Oesterreicher 2007; Feilke/Hennig 2016). Weitgehend unbestritten ist das deskriptive Potential des universell-anthropologisch fundierten Ansatzes in seiner sprachhistorischen Anwendung auf die Vor- und Frühgeschichte der romanischen Sprachen (Vulgärlatein, spätlateinische Diglossie, Ausbau, Mündlichkeit in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten, ‘expressiver’ Sprachwandel). Kritisiert wird das Modell dagegen aus medienlinguistischer Perspektive, nämlich in seiner Anwendung auf ‘neue’, internetbasierte Formen der Schriftlichkeit: Deren Besonderheiten seien nicht allein auf konzeptioneller Ebene, als Resultat einer ‘defizitären’ graphischen Repräsentation sprechsprachlicher Strukturen, erklärbar. Vielmehr seien die physisch-medialen Voraussetzungen der Kommunikationsform (z.B. Chat, Instant Messaging) selbst schon ein wesentlicher Aspekt der bei Koch/Oesterreicher zur Parametrisierung des konzeptionellen Profils von Diskurstradition herangezogenen Kommunikationsbedingungen. Das ‘Medium’ sei somit anzuerkennen als determinierender Faktor der Zeichenprozessierung und Bedeutungskonstitution (Dürscheid 2003; Kailuweit 2009; Schneider 2016).

Das Kolloquium setzt sich zum Ziel, das theoretische Fundament der auf dem Koch/Oesterreicher-Modell basierenden Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsforschung einer kritischen Revision zu unterziehen. Ausgehend von der Kritik, die in gegenwartssprachlicher Perspektive an der „Medienvergessenheit“ (Androutsopoulos 2007: 80) des Nähe/Distanz-Modells geübt wurde, soll der Frage nach dem Verhältnis von Medium und Konzeption auch in diachroner Perspektive nachgegangen werden: Im Zentrum steht hierbei der diskurstraditionelle Wandel mit seinen sprachhistorischen Implikationen. Ein weiteres, daran anschließendes Ziel des Kolloquiums ist es, die Rolle zu bestimmen, die dem – im linguistischen Mainstream oft marginalisierten – schriftsprachlichen Wandel überhaupt in der Geschichte romanischer Sprachen zukommt.

Mögliche Ansatzpunkte für die Diskussion bieten die folgenden Überlegungen:

  • Gibt es historische Fälle des medial bedingten Wandels von Diskurstraditionen und entsprechender sprachlicher Konventionen, die bislang nicht hinreichend als solche gewürdigt wurden? Inwieweit lassen sich etwa die materialphilologischen Ansätze der neueren Mediävistik auf andere Bereiche sprachhistorischer Forschung übertragen, z.B. den Buchdruck, das Zeitungswesen oder audiovisuelle Medien (Raible 2006)? Kann medial bedingter Wandel von Diskurstraditionen mittelbar auch zu sprachlichem Wandel führen, sei es unter dem Aspekt der Genese oder unter dem Aspekt der Verbreitung innovativer Strukturen?
  • In welchen Bereichen des Lexikons und der Grammatik hat der schriftsprachliche Ausbau die romanischen Sprachen in typologischer Hinsicht geprägt (Raible 1992)? Welche Rolle spielen dabei Entlehnungen aus dem Latein oder aus anderen Prestigesprachen? An welchen konkreten Fallbeispielen aus der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte lässt sich das Ineinandergreifen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gegebenenfalls in verschiedenen Phasen des Sprachwandels, aufzeigen oder problematisieren (Koch 2004)?
  • Welche Wechselwirkungen bestehen im Rahmen der einzelsprachlichen Architektur zwischen dem ausbauinduzierten Wandel in der Schriftlichkeit und der Ebene der primären romanischen Dialekte (Standardisierung als Prozess der Vermischung oder Neutralisierung regionaler Varietäten, konservative vs. progressive Tendenzen in der Mündlichkeit, verzögerte Reflexe sprechsprachlichen Wandels in der Schriftlichkeit, Herausbildung tertiärer Dialekte)?
  • Inwieweit bildet die internetbasierte Schriftlichkeit des 21. Jahrhunderts bislang nur mündlich gebrauchte romanische Varietäten ab? Welche formalen und funktionalen Strategien der schriftsemiotischen Überformung lassen sich beobachten (Dürscheid/Frick 2016; vgl. zum Begriff der ‘fingierten Mündlichkeit’ López Serena 2007)?
  • Welcher Medienbegriff soll die künftige linguistische Forschung leiten? Erweist sich die bei Koch/Oesterreicher (2011: 14) vorgenommene Engführung auf die Dichotomie von Graphie und Phonie als sinnvoll, oder muss in einem zeitgemäßen Modell sprachlicher Variation auch die diskurstraditionelle Ausdifferenzierung nach technisch definierten Kommunikationsformen Berücksichtigung finden?

Willkommen sind in erster Linie romanistische Vorträge, die auf empirischer Basis Ansatzpunkte zur varietätenlinguistischen Differenzierung des Sprachwandels oder zur theoretischen Weiterentwicklung des Nähe/Distanz-Modells diskutieren. Außerdem werden Beiträge begrüßt, die die inner- oder außerromanistische Rezeptionsgeschichte des Koch/Oesterreicher-Modells beleuchten und mögliche begriffliche Inkommensurabilitäten mit anderen Forschungstraditionen aufzeigen.

Vortragssprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Abstracts für dreißigminütige Vorträge (+ 15 Minuten Diskussionszeit) sind bis zum 1. Juli 2017 per E-Mail an die Veranstalter zu senden. Die Benachrichtigung über die Annahme ergeht spätestens am 31. Juli 2017.

Zeit und Ort der Veranstaltung:
23.–24. November 2017
Historisches Kolleg, Kaulbachstraße 15, 80539 München (http://www.historischeskolleg.de)
Das Kolloquium endet am Freitag spätestens um 16 Uhr.

Gastredner:
Christa Dürscheid (Zürich)
Araceli López Serena (Sevilla)
Wolfgang Raible (Freiburg i.Br.)

Organisation:
Teresa Gruber (teresa.gruber@romanistik.uni-muenchen.de)
Klaus Grübl (klaus.gruebl@lmu.de)
Thomas Scharinger (thomas.scharinger@lmu.de)

Literatur:
Androutsopoulos, Jannis (2007): „Neue Medien – neue Schriftlichkeit?“ Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1/07: 72–97.
Dürscheid, Christa (2003): „Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme.“ Zeitschrift für Angewandte Linguistik 38: 37–56.
Dürscheid, Christa/Frick, Karina (2016): Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert (Einsichten. Wer mitreden möchte). Stuttgart: Kröner.
Feilke, Helmuth/Hennig, Mathilde (Hrsg.) (2016): Zur Karriere von ‘Nähe und Distanz’. Rezeption und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells (Germanistische Linguistik 306). Berlin/Boston: De Gruyter.
Kailuweit, Rolf (2009): „Konzeptionelle Mündlichkeit!? Überlegungen zur Chat-Kommunikation anhand französischer, italienischer und spanischer Materialien.“ Philologie im Netz 48: 1–19.
Koch, Peter (2004): „Sprachwandel, Mündlichkeit und Schriftlichkeit.“ Zeitschrift für romanische Philologie 120: 605–630.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte.“ Romanistisches Jahrbuch 36: 15–43.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (2007): Lengua hablada en la Romania: español – francés – italiano. Versión española revisada, actualizada y ampliada por los autores. Madrid: Gredos.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (²2011): Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch – Italienisch – Spanisch (Romanistische Arbeitshefte 31). Berlin/New York: De Gruyter.
López Serena, Araceli (2007): Oralidad y escrituralidad en la recreación literaria del español coloquial (Biblioteca Románica Hispánica II, 449). Madrid: Gredos.
Raible, Wolfgang (1992): Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Jahrgang 1992, Bericht 2). Heidelberg: Winter.
Raible, Wolfgang (2006): Medien-Kulturgeschichte. Mediatisierung als Grundlage unserer kulturellen Entwicklung (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 36). Heidelberg: Winter.
Schneider, Jan Georg (2016): „Nähe, Distanz und Medientheorie.“ In: Feilke/Hennig (Hrsg.) 2016, 333–356.

Beitrag von: Klaus Grübl

Redaktion: Marcel Schmitt