Stadt: Göttingen

Nicht nur das Seminar für Romanische Philologie, sondern die Philosophische Fakultät und die Georgia-Augusta in ihrer Gesamtheit haben Anlass zur Trauer um einen ihrer Großen. Denn Jürgen von Stackelberg war ein Aufklärer, so recht in der Tradition unserer Universität, der er von 1964 an als Professor verbunden war.
Von Stackelberg, Schüler von Hugo Friedrich, war ein Romanist und Literaturwissenschaftler mit dem Anspruch, das riesige Fach umfassend zu vertreten. Als solcher folgte er einem Konzept, das im 20. Jahrhundert z.B. von Ernst Robert Curtius verkörpert wurde, das in die Konzeption seiner Habilitationsschrift Tacitus in der Romania (1960) einfloss. Mit dem Begriff der „literarischen Rezeption“ im Untertitel führte er allerdings eine Forschungsrichtung ein, die erst Ende der 60er Jahre gängige Münze wurde. Auffällig ist der Kontrast der inhaltlichen Schwerpunktsetzung mit seiner Dissertation von 1952 zur Auseinandersetzung mit der modernen Technik in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Jürgen von Stackelberg hat diese Weite und Vielfalt mit einer Lust an Literatur neugierig, enthusiastisch und stets faktenbewusst gepflegt. Sein spezifischer Zugang zur philologisch-kritischen Auseinandersetzung mit seinen Gegenständen erlaubte es ihm, immer wieder neue Welten zu erschließen. Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeiten ist die Französische Aufklärung, zu der ihn spätestens seine Romangeschichte Von Rabelais bis Voltaire (1970) führte. Beispielhaft zeigt sich seine – gelegentlich skeptische – Liebe für Diderot, Montesquieu, Voltaire, et j’en passe, in seinem Aufsatz „Menschenrechte und Negersklaven – Der Weg zu Dekret des französischen Nationalkonvents vom 4. Februar 1794“. Das im Titel erwähnte Dekret ist für von Stackelberg nicht etwa ein Zeugnis revolutionärer Philanthropie, sondern des Siegs eines Patriotismus, dem die schwarzen Sklaven erst dann einfallen, als England und Spanien die französischen Kolonien in der Karibik bedrohen. Das „Streben nach Besitzstandswahrung und das Geschäftsinteresse der Bourgeoisie“ seien die tatsächlichen Triebfedern des Konvents gewesen. Die Französische Revolution sei „wie auf dem Gebiet der Frauenemanzipation“ ebenso wie im „Bereich der Sklavenbefreiung“ „weit hinter den Ideen der Aufklärung zurückgeblieben“. Stackelberg beweist dann an Bespielen aus den auch im engeren Sinne literarischen Schriften der Genannten – Candide darf nicht fehlen – wie zutreffend seine Beobachtung ist. In seine Beweisführung kann er auch die Engländerin Aphra Behn und ihren Roman Oroonoko, or the Royal Slave (1688) einbringen, dessen Übersetzung ins Französische (1745) und von dort in weitere europäische Sprachen ein „Bestseller“ wurde. Wie diese Übersetzung und deren Übersetzungen das Original im Hinblick auf die Anklage der „Verlogenheit und Grausamkeit“ der weißen Pflanzer entschärft, zeigt von Stackelberg beinahe nebenher. Die engagierte Aufmerksamkeit des Romanisten hatte schon 1976 die Karibik in den Blick genommen, in seiner Schrift Négritude. Texte zur Geschichte des Kolonialismus und seiner Überwindung, in der er z.B. Mongo Béti (Kamerun) und Aimé Césaire (La Martinique) zur Lektüre auch an Schulen empfiehlt (der Text erschien in der Reihe Modelle für den neusprachlichen Unterricht).
Selbst auf dem Gebiet der von der Zunft lange vernachlässigten Fachdidaktik hat von Stackelberg nach „neuen Ufern“ gesucht, wie es in einem programmatischen Aufsatz heißt. Pionier war er als „Postkolonialist“, Übersetzungswissenschaftler und als solcher Komparatist, als Kulturwissenschaftler und Beobachter von Frauenliteratur (etwa der Kanadierin Gabrielle Roy). Ausgefeilte Methodendiskussion oder ausgedehnte Fußnotenapparate waren nicht seine Sache, aber seine kaum zu übertreffende Belesenheit gepaart mit einer begeisterten und begeisternden Zuwendung zu „seinen“ Texten eröffnete unterschiedlichste Perspektiven. Seine Tätigkeit als Vermittler insbesondere der französischsprachigen Kulturen wurde mit zwei Orden der Republik Frankeich öffentlich anerkannt, dem Ordre des Palmes Académiques (als „officier“) und dem Ordre des Arts et des Lettres.
Genauso offen wie in der auch publizistischen Vertretung der Romanistik – immer einmal wieder in der F.A.Z. – war von Stackelberg auch in seinen hochschulpolitischen Positionen, die vor allem in der Dekade zwischen 1965 und 1975 zum Tragen kamen. Dem toleranten Aufklärer waren die zunächst von der Studentenschaft initiierten Reformbemühungen alles andere als fremd. Dem liberalen und fein gebildeten Freigeist waren jedoch deren sich radikal gebenden, maßlosen Forderungen und unflätig beleidigenden Anfeindungen schwer erträglich. Trotzdem stellte er sich als Dekan der Philosophischen Fakultät in den Jahren um1968 und immer wieder als Direktor des Seminars der doppelten Herausforderung durch eine vorwiegend konservative Mehrheit von Kollegen einerseits, durch stürmisch Reformen verlangende Studentinnen und Studenten andererseits. Er zeigte diesen Forderungen gegenüber Verständnis, aber markierte auch deutlich Grenzen, wie seine Korrespondenz mit den „Roten Zellen Lehre“ und der Fachschaft Romanistik bezeugt. Seine Zeit als Vorsitzender des Deutschen Romanistenverbands (1971-1974) war ebenfalls von Konflikten gekennzeichnet, die der undogmatische Professor auflösen sollte und auflösen wollte (Stellung des „Mittelbaus“, Einheit des Verbandes, Kanon- und Lehrplanfragen).
Zu einer fruchtbaren Diskussion an Stelle törichter Konfrontation hätte von Stackelbergs im Kontext der bundesrepublikanischen Akademie vollkommen unzeitgemäße Begeisterung für Pablo Neruda führen können, den er 1964 in Hamburg anlässlich einer Lesung aus den „Höhen von Macchu Picchu“ persönlich kennenlernte (im Publikum saß ein Student namens Manfred Engelbert). In zahlreichen Publikationen und Übersetzungen scheute er sich nicht, das in der Romania nicht ungewöhnliche Zusammentreffen von kommunistischem Engagement und außergewöhnlicher lyrischer Ausdruckskraft auf seine Art zur Debatte zu stellen. Seine Lösung des als Konflikt gesehenen Phänomens bestand in der Annahme eines umfassenden „poetischen Realismus“, in dem die politische Komponente allmählich hinter einer „Alltagslyrik“ zurückträte. Nicht alle Menschen werden diese tolerante Deutung akzeptieren.
In Chile, das er als „freundlich“ erfuhr und in Erinnerung behielt, lernte er noch einen zweiten Dichter kennen, dessen „Alltagslyrik“ ihn ebenso wie die Nerudas faszinierte: die Rede ist von Nicanor Parra und seiner Antipoesie. Parras Diktum von der Komik der ernsten Dichtung beschäftigte von Stackelberg in späten Jahren insbesondere in der von ihm gestellten Frage nach dem Ernst der komischen Dichtung. Eine Strophe aus dem Gedicht „Madrigal“ möge Jürgen von Stackelberg begleiten, der am 3. Februar heiter, so wird gesagt, diese Welt verließ:

Me parece que el éxito será completo
Cuando logre inventar un ataúd de doble fondo
Que permita al cadáver asomarse a otro mundo.

Manfred Engelbert

Beitrag von: Annette Paatz

Redaktion: Robert Hesselbach