Frist: 2020-06-15

Corona: Krise oder Wende? Wie Krisen Kulturen verunsichern und verändern

Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert ist das 21. Jahrhundert bislang von Kriegen weltumspannenden Ausmaßes verschont geblieben. Stattdessen beherrschen Krisen der unterschiedlichsten Art das neue Jahrtausend, verunsichern Individuen und Kollektive und beginnen gewohnte Rituale und Verhaltensweisen zu verändern. Während die Finanzkrise in Europa als die erste große Erschütterung des neuen Jahrtausends (weitgehend) überwunden ist (bzw. bis zum Ausbruch der Pandemie als überstanden schien), zeigen sich die globalen Auswirkungen der Klimakrise immer deutlicher in zunehmenden Extremwetterlagen und Dürren, die wiederum zu massiven geopolitischen Krisen zwischen Global South und Global North führen werden. Bereits diese Krisen haben zur Verunsicherung nationaler und globaler Gesellschaften geführt. Nun ist es eine Bedrohung der ganz anderen Art, die Europa und die Welt regelrecht aus den Fugen geraten lässt: Was bislang nur dystopisches Szenarium medialer Fiktionen war – man denke bspw. an Albert Camus‘ La Peste, Dean Koontz‘ Psychothriller The Eyes of Darkness oder aber an Computerspiele wie Epidemic!, Pandemic, Outbreak oder Plague Inc.) –, ist unseren Alltag bestimmende Realität geworden – die Pandemie Corona.
Bereits jetzt, mitten in der Corona-Krise, lassen sich auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Ebenen zahlreiche Veränderungen und Verschiebungen feststellen; ob deren Ausmaß und Folgen letztlich zu einem Paradigmenwechsel führen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt freilich noch nicht abzusehen. ,Corona‘ ist aber bereits jetzt zur Metapher einer verunsicherten Weltgesellschaft geworden, die sich am Rande eines unabwendbaren Umbruchs befindet; denn Covid-19 wird sich langfristig ebenso wenig mit schnellen Maßnahmen nachhaltig überwinden lassen wie die Klimakrise und zugleich wird die Pandemie zu einer weiteren, nun aber globalen Wirtschaftskrise führen. Just diese Unsicherheit angesichts der unmittelbaren und langfristigen Zukunft ist zugleich aber auch das offensichtlichste Phänomen der aktuellen globalen Krisenlage, die letztlich ein komplexes Konglomerat aus akuter Pandemiegefahr, gesundheits- und bildungspolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, politischer und ökologischer Krise ist.
Zu den schon jetzt beobachtbaren Veränderungen zählen mitunter recht antagonistische Entwicklungen: Neben der Zunahme einer ausgeprägten Kriegsmetaphorik in politischen Diskursen – (nicht) nur des „wartime president“ Donald Trump – werden verstärkt ethische, moralische und politische Debatten um Gerechtigkeit, Solidarität und Teilhabe geführt. Während es auf der einen Seite zu ganz neuen Formen nachbarschaftlicher Solidarität und kommunikativer Vernetzung über die sozialen Netzwerke kommt, verbreiten sich auf der anderen Seite Verschwörungstheorien, nationalistisch-rassistische Schuldzuweisungen und stimmungsmachende Fake News viral und schüren Alteritäts- und Exklusionsdebatten. Auch Quarantäne und Lock-Down, Home-Office und Home-Schooling führen zur Verstärkung bestehender und der Produktion neuer sozialer Ungleichgewichte innerhalb der Gesellschaften und haben zugleich auf individueller wie kollektiver Ebene (womöglich nachhaltige) psychologische Auswirkungen. Ungleichheiten zeigen sich letztlich bereits jetzt in quasi allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens. Während Online-Dienste (wie bspw. Amazon und Netflix) und die sozialen Netzwerke nun endgültig ihren Siegeszug feiern, ist das reale zwischenmenschlichen Interagieren durch den Lock-Down quasi zum Erliegen gekommen und das soziale, religiöse, kulturelle und schulisch-universitäre Leben hat sich m.E. komplett in virtuelle Räume verlagert. Dabei kann diese erzwungene Verlagerung trotz aller Ängste und Bedenken, die sie vielfach schürt, aber auch eine Chance für Neubewertungen, Revisionen und Veränderungen sein.


Ziel des transdisziplinär konzipierten, kulturwissenschaftlichen Publikationsprojektes ist es, ganz im Sinne einer vorläufigen Bestandsaufnahme, erste Bewertungen von und kritische Reflektionen über gesellschaftliche, systemstrukturelle, politische und kulturelle Krisen und Verunsicherungen zu präsentieren, die vor dem Hintergrund der Pandemie besonders deutlich zutage treten. Dabei soll ganz bewusst eine globale Perspektive angelegt werden, um so Unterschiede der Umgangs- und Bewältigungsstrategien von Unsicherheit und Krise herauskristallisieren und ggf. auch möglichen kulturellen Ursachen dieser nachspüren zu können. Neben länderspezifischen Fallanalysen sind daher auch vergleichende Studien besonders willkommen. Der jeweilige Fokus der Einzelbeiträge kann dabei bspw. auf analytische oder deskriptive Untersuchungen der Kernphänomene Krise(n), Unsicherheit/Verunsicherung, Solidarität und Gemeinschaftssinn vs. Selbstnutzen und Ausgrenzung, ethisch-moralischer Umgang mit Krankheit und Tod, Wende/Paradigmenwechsel oder/und auf die Analyse kultureller, literarischer und medialer Ver- und Bearbeitungsstrategien dieser Krisenphänomene gelegt werden.


Aufgrund der Aktualität des Themas wird eine zeitnahe Publikation angestrebt. Die die fertigen Beiträge werden daher bis zum 15. September 2020 erbeten. Die Beitragssprachen sind Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch (jedem Beitrag ist ein englisches Abstract beizufügen).

Bitte senden Sie Ihren Beitragsvorschlag von max. 800 Wörtern zusammen mit einer Kurzbiographie bis zum 15. Juni 2020 an Marina Ortrud M. Hertrampf: marina.o.m.hertrampf@gmail.com

Beitrag von: Marina Ortrud Hertrampf

Redaktion: Robert Hesselbach