Nachruf auf einen Ausnahmeromanisten

Unser lieber Kollege und Freund, PD Dr. Kian-Harald Karimi, ist am 10.06.2020 nach langer Krankheit, gegen die er sich mit voller Kraft stemmte, gestorben. Er hatte noch bis zuletzt die Kraft gehabt, ein Buchprojekt mit einer Auswahl seiner Schriften zu gestalten. Das holte ihn zurück ins Leben und erfüllte ihn mit Freude. Gerade das,seine unbegrenzte Liebe zur Literatur, sein unstillbarer Drang nach Wissen, seine Lust aufs Schreiben und seine unbändige Neugier, waren prägende Merkmale seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit. Im Privaten kam sein Humor, sein einehmendes Lachen, seine Ausgelassenheit, seine Freude an Diskussionen und nicht zuletzt an Feiern dazu. Ich erlebte ihn als einen fröhlichen und freudigen Zeitgenossen.

Kian war am Institut für Romanistik der Universität Leipzig von 1993-1999 als Assistent an meiner Professur tätig, er habilitierte sich bei mir an unserer Fakultät und dann nahm er eine zweijährige Professurvertretung in unserem Institut im Bereich Französisch/Italienisch wahr. Darauf folgten weitere Professurvertretungen an deutschen Universitäten.

Meine erste Begegnung mit Kian (der wie viele aus dem Mittelbau vor der Berufung der Professoren*innen eingestellt worden war) war zu Beginn des SS 1993 in Leipzig, als wir zu einem Empfang am kurz zuvor eröffneten Institut Français gingen. Auf dem Weg dahin, im Taxi, ging Kian gleich zur Sache: er schmiedete Pläne, und mit Begeisterung sprühte er, was wir alles zu lesen hätten und müssten, welche Veranstaltungen wir geben sollten. Ich war auf Anhieb von seiner enormen Intelligenz, seinem breiten sowie tiefgründigen Wissen und einer selten zu treffender Begeisterungsfähigkeit geradezu hingerissen. Er war unermesslich belesen, eine wandernde Enzyklopädie,oft musste ich an Borges denken, denn in Kians Leben hatte die Literatur eine existenzielle Rolle.

Kian konnte auf ein eindrucksvolles Œuvre zurückblicken, auf zwei umfangreiche Monographien, seine Dissertation aus dem Jahre 1991, Auf der Suche nach dem verlorenen Theater: Das politische Gegenwartsdrama unter der politischen Zensur (1960-1974) mit 416 Seiten und auf seiner Habilitation aus dem Jahre 2000 (publiziert erst 2007), Jenseits von altem Gott und “Neuem Menschen”: Präsenz und Entzug des Göttlichen im Diskurs der spanischen Restaurationsepoche, mit 785 Seiten sowie auf eine große Zahl von Artikeln. Aber wichtiger als die Zahl der Publikationen ist die wissenschaftliche Tragweite und die Dimension seiner Leistung. All seine Publikationen charakterisieren sich von Beginn an durch einen fundierten transdisziplinären Ansatz fußend auf Beiträgen v.a. aus der Philosophie, Geschichte, Soziologie, Kultur- und Literaturwissenschaft, ein Ansatz, dessen Produktivität sich gerade in seiner Habilitation zeigte, wie Vernon A. Chamberlin in seiner Rezension hervorhebt (Näheres findet man auf der HP von Kian-Harald Karimi: https://kianharaldkarimi.de/40359.html, unter wiss. Profil/Habilitation). Seine Habilitation ist ein Meilenstein und sprengt jede wie hoch immer anvisierte Erwartung. Kian ging es immer um das Ganze. Den epistemologischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Beitrag, den Kian in seiner Habilitation (sowie in zahlreichen Artikeln) erbringt, kann man nicht genug würdigen. Darin zeigt er die Komplexität von Zeichensystemen und -strukturen bei der Konstruktion religiöser Denkfiguren, Diskurse und Symbole und wie diese in der Gesellschaft zirkulieren. Aber die vielleicht überragendste Leistung dieser Arbeit ist zur spanischen Literatur und zum Realitätsbegriff im 19. Jahrhundert, zu einem Bereich, der von der spanischen Philologie mit antiquierten Methoden und Interpretationsansätzen ziemlich malträtiert worden ist. Kian holt diese Literatur, die oft als eine Nachahmung des französischen sog. „realistischen Romans“ des 19. Jh. abgestempelt wurde und noch wird, aus dem Epigonentum heraus. Hier leistet er nicht nur eine grundsätzliche Revision gängiger Interpretationen, sondern er führt eine vollständig neue Sicht auf Romane und Kultur dieser Zeit ein.

Kian leistete für Spanien das, was Eckard Höfner zur französischen Literatur des 19. Jh. leistete (Literarizität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jh. Winter 1982). Mit diesem umfangreichen Werk reiht sich PD Dr. Kian-Harald Karimi in jene Tradition großer Hispanisten wie Marcel Bataillon, Alexander A. Parker, Hugo Friedrich oder Karl Alfred Blüher, ein, aber auch in die der deutschen Romanisten, wie Ernst Robert Curtius oder Erich Auerbach, und das, obwohl er ab 2002 stets unter widrigen Verhältnissen wissenschaftlich arbeiten musste.Ich hielte ihn deshalb für einen der klügsten und innovativsten Köpfe der deutschen Romanistik, der seinen akademischen Weg unbeirrt ging. Sein Werdegang zeigt mustergültig einerseits, dass man es auch ohne eine ordentliche Professur zu Höchstleistungen bringen kann, aber andererseits auch die Misere unseres Hochschulsystems und unserer Förderinstitutionen anderseits, die ihn in einer angemessenen Art und Weise nicht förderten.

Er war nicht nur passionierte Wissenschaftler, sondern ein leidenschaftlicher Lehrer, wie die Ernennung zum „Profstar“ von den Studierenden der Universität Potsdam im Jahre 2007 offenbarte, und damit eine wahre Bereicherung für jedes Institut. Ich kann diese Auszeichnung auf der Grundlage der vielen Hauptseminare, die wir gemeinsam hielten und der vielen Kolloquia und Ringvorlesungen, die wir teilten, sehr gut nachvollziehen.

Kian war grundsätzlich authentisch, unverbiegbar, geprägt von einer großen menschlichen Güte und Hilfsbereitschaft sowie Empathiefähigkeit, er war offen und neugierig. Er beschreibt:

“Es sei vorausgeschickt, dass ich in meinem Studium und meiner Doktorandenzeit nachhaltig von der Bonner Romanistik geprägt wurde. Während man den Schwerpunkt in Bonn vor allem auf die Geschichtlichkeit und die soziologische Begründung der Literatur gelegt hatte, waren Lehre und Forschung in Leipzig von poststrukturalistischen und semiotischen Verfahren bestimmt. Mein Interesse als Wanderer von West (Wolf-DieterLange) nach Ost (Alfonso de Toro) bestand gerade darin, beide nicht selten als Gegensätze gedachte Optionen als gleichberechtigte Instrumente einer Literatur- bzw. Kulturanalyse anzuwenden, welche die Geschichte der Wirklichkeitsauffassungen ebenso wahrnimmt wie sozialhistorische Zusammenhänge” (siehe seine HP unter wiss. Profil).

Von Kian konnte man von Woche zur Woche immer etwas Neues lernen und man wurde überhäuft mit bibliographischen Angaben. Jene von uns, die ihn kannten, mit ihm verbunden waren und mit ihm arbeiteten, ihn wissenschaftlich und intellektuell sehr schätzten, wissen, dass er ein „Ausnahmemensch war, der bei uns Spuren interlassen hat“, um eine Institutskollegin zu zitieren.

Wir sind enorm betroffen, einige von uns hielten regelmäßigen Kontakt mit ihm und konnten ihn ein Stück begleiten. Unser letztes Telefonat war am 6. Juni, wir haben an jenem Samstag u.v.a. über den Band mit einigen seiner Schriften gesprochen (und übrigens auch gelacht), der von Dr. Claudia Gatzemeier, Prof. Dr. Cornelia Sieber, Prof. Dr. Annegret Thiem und mir demnächst herausgeben wird. Am gleichen Tag schickte er mir noch den Titel der Artikelsammlung und einen zusätzlichen Beitrag als Einleitung. Seine Monographie, auf die er sich so gefreut hat, wird ein letzter Dank an ihn und eine Verneigung vor einem großherzigen Menschen und vorzüglichen Wissenschaftler sein.

Prof. Dr. Alfonso de Toro