Frist: 2021-02-28

Fluchtlinien der Sprache. Migration und Sprachbewegung im Spiegel der Medical Humanities

Hg. von Katharina Fürholzer und Julia Pröll

Deadline für Abstracts: 28. Februar 2021
Benachrichtigung: 15. April 2021
Einreichung fertiger Beiträge: 30. September 2021

Hintergrund
Migration und der damit verbundene Verlust von Heimat, Sprache und Kultur vermögen eine fundamentale Zäsur im Leben von Betroffenen darzustellen. Der Artikulation entsprechender – häufig traumatischer – Erfahrungen kommt deshalb eine Schlüsselrolle zu. Nicht immer lässt sich allerdings der eigenen Migrationsgeschichte adäquat Ausdruck verleihen, sei es aufgrund von sprachlichen Hürden, sei es, weil – etwa im Falle fluchtbedingter (und traumaassoziierter) Migration – das Erlebte das menschlich Vorstell- und Sagbare zu übersteigen droht.
Hier wird bereits deutlich, dass Migration auch das europäische Gesundheitswesen vor die Herausforderung stellt, PatientInnen unterschiedlichster Herkunft zu versorgen, was nicht nur ‚sprachlose‘ apparative Diagnostik, sondern auch (transkulturelle) Kommunikation impliziert. Die Narrative Medizin weist seit geraumer Zeit auf die Notwendigkeit hin, PatientInnen – nicht nur in entsprechenden (psycho-)therapeutischen Settings – in eigenen Worten von ihren Erfahrungen und Bedürfnissen erzählen zu lassen. Dieser Prozess erfordert nicht nur Zeit – ein im heutigen Gesundheitssystem bekanntermaßen äußerst knappes Gut –, sondern auch personelle Ressourcen, bspw. für KulturmittlerInnen (wie DolmetscherInnen etc.), um sprachliche und kulturelle Barrieren bestmöglich zu überwinden und Unsagbares (zumindest ansatzweise) zu artikulieren.
Der Literatur von und zu (im-)migrierten PatientInnen kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu. Man denke exemplarisch an die Möglichkeiten der poetischen Gattung, trotz oder gerade wegen ihrer Dichte und Kürze, der Platzierung der schwarzen Schrift auf der – sprechenden, ja bisweilen schreienden, brüllenden – Leere des weißen Papiers oder auch der Konnotationen und Assoziationen, die durch den Gebrauch sprachlicher Figuren und Tropen geweckt werden, an die Grenzen der Sprache vorzudringen, sie produktiv zu nutzen und zu verschieben (vgl. Holzer et al. 2011). Auf diese Weise erlaubt es Literatur – nicht zuletzt durch die kreative Nutzung von Mehrsprachigkeit und die Überblendung unterschiedlicher kultureller Referenzsysteme – die mit Migration und Medizin verbundenen (Sprach-)Hürden zumindest in Teilen zu überwinden und so zu einer Ethik und Ästhetik der Fürsorge im Sinne des Care-Paradigmas beizutragen (vgl. z.B. Gefen 2019; Mathis-Moser u. Carrière 2019). Doch auch medizinische Texte können migrationsbedingte Sprachgrenzen nicht nur – mitunter schmerzlich – bewusst machen, sondern auch verschieben, wie sich beispielsweise an der Bildsprache von Medical Comics zu zeigen vermag. Insgesamt wohnt jedenfalls sowohl medizinischen als auch ganz besonders literarischen Texten ein Potenzial der Hervorbringung inne, das sprachliche Grenzverschiebungen zu bewerkstelligen vermag.
Das hier skizzierte Verhältnis von Medizin, Migration und Literatur beschäftigt die Forschung seit geraumer Zeit. Die einzelnen Säulen werden dabei in der Regel in dualistischer Manier untersucht, also mit einem Fokus auf den Wechselwirkungen von entweder Medizin und Migration (vgl. z.B. Marks u. Worboys 1997; Cox u. Marland 2013; Steger et al. 2020), Medizin und Literatur (vgl. z.B. Journals wie Literature and Medicine oder das Jahrbuch Literatur und Medizin) oder Migration und Literatur (vgl. z.B. Bauer et al. 2019; Natarajan 2019; Mathis-Moser u. Pröll 2020). In Erweiterung hierzu wird mit dem Sammelband die Trias von Migration–Medizin–Literatur nicht länger getrennt, sondern integrativ gedacht, also in ihrer Gleichzeitigkeit in den Blick genommen (vgl. auch Pröll 2021). Dieses Streben nach Grenzüberwindung bzw. verschiebung schlägt sich auch auf die methodische Ausrichtung des Bandes nieder: Im Sinne eines disziplinäre Demarkationslinien überwindenden Verständnisses der Medical Humanities soll sich der Trias so nicht aus entweder geisteswissenschaftlicher oder medizinischer Perspektive genähert werden, vielmehr gilt es, beide Diskurse zu kreuzen und komplementär zueinander zu setzen.

Interessensschwerpunkte
Vor diesem Hintergrund widmet sich der Sammelband unterschiedlichen textuellen und medialen Produktionen, die das komplexe Verhältnis von Medizin, Sprache und Migration berühren. Der Schwerpunkt liegt hierbei (1) auf den Rollen der verschiedenen AkteurInnen, (2) auf Fragen des Sprachlichen sowie (3) den Spezifika des Ästhetischen. Unter Berücksichtigung fiktionaler wie auch nicht-fiktionaler Texte (sei es in digitalen oder analogen Formaten) sowie anderen medialen Darstellungen, gilt das Interesse sprachlichen Verlusten – mit oder ohne ‚offiziellen‘ Krankheitswert – ebenso wie den Momenten der Kreation und Hervorbringung, die aus der migrationsbedingten (Ver- und Zer-)Störung bestehender Sprachnormen resultieren können. Im Fokus stehen demnach nicht nur exil- und fluchtbedingte ‚Störungen‘ des Sprach- und Ausdrucksvermögens, sondern auch Texte (sowie andere mediale Produktionen / Artefakte), die aus privilegierter, freiwilliger Migration hervorgehen. In jedem Fall geht es darum, jene – durchaus auch friktional zu verstehenden – third spaces (Rutherford 1990, 210), also die Kulturkontakt- und konfliktzonen zu erkunden, die im Kontext von (Sprach-)Migration entstehen und im inter- bzw. transdisziplinären Grenzraum von Medizin und Literatur von Relevanz sind.

1) Mit Blick auf die AkteurInnen stehen zunächst Fremd- und Selbstrepräsentationen von PatientInnen, Gesundheitspersonal wie auch SprachmittlerInnen zur Diskussion:

PatientInnen

  • als Figuren: Wie werden PatientInnen und mit Migration einhergehende Sprachverschiebungen textuell und medial repräsentiert? Wie wird etwa das Verhältnis von Sprach-, Kultur- und Körpergrenzen verhandelt?
  • als AutorInnen: Wie (und in welchen Gattungen und Medien) werden Erfahrungen von migrationsassoziiertem Sprachverlust verhandelt? Wie reflektieren AutorInnen mit Migrationserfahrung entsprechende therapeutische Angebote sowie die Vor- und Nachteile, die sich für sie im Vergleich zu anderen – bspw. nicht (im-)migrierten – PatientInnen ergeben?

Gesundheitspersonal

  • als Figuren: Wie werden ÄrztInnen, PflegerInnen, SeelsorgerInnen etc. in literarischen Auseinandersetzungen mit migrationsbedingten Sprachbewegungen dargestellt?
  • als AutorInnen: Welche Ausdrucksformen (z.B. medical-profession writing) wählt Gesundheitspersonal, um eigene (ärztliche, therapeutische etc.) Erfahrungen in der Arbeit mit MigrantInnen (und deren ‚Sprachstörungen‘) zu thematisieren? Ergreift auch Gesundheitspersonal mit Migrationshintergrund das Wort, bspw. um eigene Schwierigkeiten in Ausbildung und Berufsausübung zu thematisieren? Welche Wechselbeziehungen ergeben sich schließlich zwischen literarischer und medizinischer Tätigkeit? Lässt sich in der literarischen Auseinandersetzung mit migrationsassoziierten Sprachbewegungen eine Veränderung des ärztlichen Blicks im Sinne Foucaults sowie des ärztlichen Handelns allgemein feststellen?

SprachmittlerInnen

  • als Figuren: Wie werden Sprachmittlerfiguren (z.B. DolmetscherInnen) in Fiktionalisierungen transkultureller Arzt-PatientInnen-Kommunikation zur Darstellung gebracht? Welche Rolle spielen kulturgebundene Metaphern im literarischen Text?
  • als AutorInnen: Wo und wie reflektieren SprachmittlerInnen ihre Erfahrungen in transkulturellen Settings? Inwiefern haben SprachmittlerInnen Einfluss auf die Literatur von und zu (im-)migrierten PatientInnen?

2) Die Trias von Medizin, Migration und Literatur ist wesentlich verbunden durch Sprache. Sprache bewegt sich und andere, kann zer- und verstören, und trotz oder gerade wegen solcher Destruktionen Neues hervorbringen. Als ein sich ständig wandelndes Phänomen mutet Sprache so mitunter selbst wie ein ‚Migrant‘ zwischen verschiedenen Kulturen, Zeiten und Orten an:

Sprachmacht

  • Welche Rolle spielt Sprache als ein fundamentales Machtinstrument menschlicher Interaktion im Kontext von Medizin, Migration und Literatur? Welchen Einfluss haben literarische oder medizinische Ausdrucksformen auf – durch Fremdsprachigkeit potenziell verstärkte – Hierarchien (z.B. Patient-Arzt-Beziehung)?

Sprachmigration

  • Wie wirkt sich die Sprache (im-)migrierter PatientInnen auf Sprachnormen in Medizin und Literatur aus? Kommt ‚fremden‘ Sprachbildern z.B. ausschließlich eine ‚pathologische‘ Dimension zu, indem sie klinische Kommunikation und Behandlung erschweren, oder verändern sie auf produktive Weise auch die Sprache der Medizin selbst? Wie können die Medical Humanities den migrierenden Status von Sprache fruchtbar machen – sei es für Medizin, Literatur oder Gesellschaft?
  • Werden die sprachlichen Auswirkungen von Migration in fiktionalen Darstellungen mit klinisch relevanten Sprachstörungen oder auch -verlusten gleichgesetzt (man denke z.B. an metaphorische Engführungen migrationsbedingter Sprachveränderungen mit Sprachpathologien wie Mutismus, Aphasie oder Stottern) oder werden sie mit ‚unerhörten‘ anderen Metaphern und Sprachbildern gefasst bzw. als ‚produktive Störungen‘ wahrgenommen? Welche Funktionen lassen sich in einem solchen Zusammenhang entsprechenden ästhetischen Verfahren zuschreiben?

3) Mit Blick auf Aspekte des Ästhetischen stellt sich insbesondere die Frage nach den Spezifika literarischer (Sub-)Gattungen und ihrer jeweiligen Möglichkeit, als Mittler zwischen verschiedenen AkteurInnen und Welten zu wirken:

Ausdrucksformen

  • Welchen Einfluss haben verschiedene Gattungsmerkmale auf die Auseinandersetzung mit migrationsbedingten Sprachbewegungen, wie unterscheiden sich also etwa Romane, Biographien oder Krankheitsblogs im Hinblick auf die Thematisierung der mit Migration verbundenen Sprachbarrieren? Inwiefern erlaubt es Literatur von und zu (im-)migrierten PatientInnen vielleicht sogar, mithilfe der Spezifika ästhetischer Ausdrucksformen außerliterarische Sprachgrenzen zu überwinden?

Einsatzmöglichkeiten

  • Medizinische Aus- und Weiterbildung: Wie lässt sich Literatur in der didaktischen Vermittlung von migrationsbezogener, transkultureller Medizin nutzen?
  • Therapie: Welche Chancen und Herausforderungen bringen Poesie- und Bibliotherapie im Kontext von Migration mit sich? Welche Textsorten (und andere mediale Produktionen) kommen konkret zum Einsatz, um Sprachbarrieren in der medizinischen Kommunikation zu überwinden?
  • Feldeinsatz: Inwiefern kann Literatur in der Arbeit humanitärer Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder dem Roten Kreuz zum Einsatz kommen?

Formalia
Wir freuen uns über Beitragsvorschläge (max. 500 Wörter) sowohl aus der Geisteswissenschaft (primär der Literaturwissenschaft, ferner auch Kultur-, Geschichts-, Translations- oder angrenzender Wissenschaften) als auch der Medizin (Medizin, Geschichte und Ethik der Medizin, Pflegewissenschaften etc.) in deutscher oder englischer Sprache samt einer Kurzbiographie bis zum 28. Februar 2021 an kfuer@sas.upenn.edu und julia.proell@uibk.ac.at. Ausgewählte Beiträge (ca. 5.000–8.000 Wörter) sollen nach Abschluss eines double blind peer review-Verfahrens in einem für 2022 geplanten Sammelband veröffentlicht werden.

Bibliographie
Bauer, Matthias, Martin Nies, Ivo Theele (Hg.): Grenz-Übergänge. Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil in Literatur und Film. Transcript 2019.
Cox, Catherine, Hilary Marland (Hg.): Migration, health and ethnicity in the modern world. Palgrave Macmillan 2013.
Gefen, Alexandre: Réparer le monde. La littérature française au 21e siècle. José Corti 2017.
Holzer, Peter J., Manfred Kienpointner, Julia Pröll, Ulla Ratheiser (Hg.): An den Grenzen der Sprache. innsbruck UP 2011.
Jahrbuch Literatur und Medizin. Winter 2007-heute.
Literature and Medicine. John Hopkins UP 1982-heute.
Marks, Lara, Michael Worboys (Hg.): Migrants, minorities, and health. Historical and contemporary studies. Routledge 1997.
Mathis-Moser, Ursula, Marie Carrière (Hg.): Writing Beyond the End Times? / Écrire au-delà de la fin des temps? The Literatures of Canada and Quebec / Les littératures au Canada et au Québec. U of Alberta P 2019.
Mathis-Moser, Ursula, Julia Pröll (Hg.): Transkulturelle Begegnungsräume: Ästhetische Strategien der Überlagerung, Pluralisierung, Simultaneität in den zeitgenössischen romanischen Literaturen. Königshausen & Neumann 2020.
Natarajan, Radhika (Hg.): Sprache, Flucht, Migration. Kritische, historische und pädagogische Annäherungen. Springer 2019.
Rutherford, Jonathan: „The Third Space. Interview with Homi Bhabha“. In: Ders. (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference. Lawrence & Wishart 2010. 207-221.
Steger, Florian, Marcin Orzechowski, Giovanni Rubeis, Maximilian Schochow (Hg.): Migration and Medicine. Karl Alber 2020.

Beitrag von: Katharina Fürholzer

Redaktion: Robert Hesselbach