Stadt: Heidelberg

Frist: 2021-07-31

Beginn: 2021-11-26

Ende: 2021-11-27

URL: https://www.materiale-textkulturen.de/teilprojekt.php?tp=C09&up=

„Nehmet und esset alle davon“: Auch für die brasilianischen Tupinambá war das gemeinsame Verspeisen von Menschenfleisch eine Ritus, in dem präsentische Gemeinschaftlichkeit und ein Opfergedanke zusammenkommen – so berichtet etwa Jean de Léry in seiner Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil von 1578. Die Kippfigur zwischen – aus europäischer Sicht – dem Herzstück katholischer Dogmatik und der morbiden Faszination des totalen Tabus öffnet einen interessanten Reflexionsraum für textuelle Verhandlungen zwischen Selbstverständnis und kultureller Alterität, die nicht selten den prekären Status eigener Kulturentwürfe aufzeigen (Montaigne…). Der erzählte Körper sowohl der Verspeisten als auch der Verspeisenden (bei wechselnden kulturellen Konstellationen) wird zur materialen Einschreibfläche für kulturelle wie für textuelle Parameter, und das gegenseitige Verschlingen bietet eine wirkungsvolle Metapher für die einschneidenden Vorgänge transkultureller Verschränkungen: nicht zufällig hat Stephen Greenblatt die ‚Eroberung‘ Amerikas als „das größte Experiment in politischem, ökonomischem und kulturellem Kannibalismus“ der westlichen Welt bezeichnet (1991: 207). In dekolonialer Perspektive arbeitet sich die aktuelle anthropologische Kulturtheorie (vgl. etwa Viveiros de Castro 2009) noch immer an der selbstbewussten Appropriation des Kannibalismusvorwurfs als kulturellem Alleinstellungsmerkmal ab, wie es der brasilianische Modernismus der 1920er Jahre propagierte.
In der geplanten Tagung soll nun die kulturtheoretische Frage nach der Tragweite von ‚Kannibalismus‘ als Metapher von Kulturkontakt nicht ohne ihre Fundierung in frühneuzeitlichen Texten gestellt sein. Dabei kann ein besonderes Augenmerk auf dem Verhältnis zwischen der Inszenierung von Körperlichkeit und einer textuellen Dimension von Einverleibung und Verschlingen liegen: Kannibalismus als Schrift- oder Text-Praktik, in Form von Aneignung und réécriture fremder Textrede, oder generell literarische Vertextung kultureller Alterität als gewaltvolle Einverleibung in die westliche “économie scripturaire” (Certeau 1980).
Einzelne Beiträge zu historischen Texten der romanischen Sprachen könnten verschiedene Aspekte der Kippfiguren Kannibalismus / Eucharistie und Körperlichkeit / Schrift aufgreifen:
- Literarische Modellierungen und Imaginationen kannibalischer Praktiken in kolonialer/ethnographischer Perspektive, und ihre Verschränkung mit eucharistischen Implikationen‚ bzw. umgekehrt ‚kannibalische‘ Implikationen und Topiken in literarischen Modellierungen eucharistischer Erfahrung, etwa in mystischen Texten.
- Erzählte Körper in ihrer Qualität zwischen Objekten des Konsum und Subjekten der Hingabe, bzw. als Chiffre für andere kulturelle, ökonomische, soziale oder individuelle Momente der Einverleibung, Opferung oder des Verschlingens.
- Kannibalisches Schreiben und Isotopien des Einverleibens / Verschlingens als textuelle Metaphern in historisch-poetologischer Perspektive.
- Eine leserzentrierte Perspektive auf die aisthetischen Aspekte literarischer Kannibalismusmodellierungen, die ‚Teilhabe am Schmaus‘ in Bezug auf Erotik, Gewalt und textuelle Transgression.
- neben Beiträgen literaturwissenschaftlicher Analysen sind auch Beiträge aus historischer, ethnographischer, anthropologischer oder kulturtheoretischer Perspektive wünschenswert.

Die Tagung soll im Rahmen der Möglichkeiten als Präsenzveranstaltung an der Universität Heidelberg (SFB 933 ‘Materiale Textkulturen’) stattfinden, Reise- und Übernachtungskosten können auf Anfrage übernommen werden.
Wir bitten um die Einreichung eines Abstracts für Vortragsvorschläge bis zum 31.07.2021, an folgende Adresse: stephanie.lang@rose.uni-heidelberg.de

Anmerkung: Die Tagung wurde verschoben und findet nun vom 26. bis 27. November 2021 statt.