Stadt: Göttingen/Würzburg/Bamberg

Beginn: 2021-08-31

Ende: 2022-03-31

Von Mägden, Stalljungen und anderen Außenseitern: Randständige Figuren in den Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (12.-16. Jhd.)

Herausgegeben von Julien Bobineau (Universität Würzburg), Brigitte Burrichter (Universität Würzburg), Sofina Dembruk (Universität Göttingen), Alyssa Steiner (Universität Bamberg)

Literarische Repräsentationen randständiger Figuren offenbaren eine Vielschichtigkeit sozio-kultureller Marginalisierungsprozesse: Besonders im Fokus steht dabei das Verhältnis soziologischer und narratologischer Randständigkeiten. Erstere beleuchtet Menschen, die gesellschaftlich, ökonomisch, geistig, aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität oder Religionszugehörigkeit am Rand stehen und in der Gesellschaft deshalb (scheinbar) keine Rolle in Bezug auf ökonomische Prozesse, die Verhandlung von Machtdynamiken oder die Produktion und den Zugriff auf Wissensbestände haben. Aus einer allgemein zu betrachtenden Marginalisierung resultieren dabei verschiedene Spielarten der Randständigkeit, die sich wie Figuren in Dienstverhältnissen, sexuell unterdrückten oder rassifizierten Figuren letztlich alle unter dem gleichen Schirm der sozioökonomischen Abhängigkeit wiederfinden. Nach Antonio Gramsci (posthum 1948-1951 erschienen) werden sogenannte Subalterne als ökonomisch Unterworfene definiert, da (Wirtschafts-)Eliten über sie herrschen. Der jeweilige Grad der Domination ist nuanciert, muss also stets individuell betrachtet werden und kann mit weiteren Formen der Unterwerfung kombiniert erscheinen (z.B. Gender, sexuelle oder religiöse Dominanz). Subalternität bedeutet deshalb kein vollumfängliches “Ausgeschlossen-sein” aus Diskurs und Repräsentation, sondern offenbart graduelle Möglichkeiten der Teilhabe, die von einer Übernahme der Ideologie der herrschenden Elite über eine Formulierung der eigenen Interessen bis hin zur Organisation von Gleichgesinnten in Interessenvertretungen reichen kann. Eine Spielart dieser Teilhabe zeichnet sich in der literarischen Verhandlung von sozialer Marginalität und bestehenden Dominanzverhältnissen ab. So bietet Literatur vielfältige Modi, um soziale und psychologische Mechanismen der Randständigkeit offenzulegen: beschreibend oder kritisch hinterfragend, subversiv, polemisch oder in Form von Satire. Durch narratologische Positionierung kann Literatur soziologische Randständigkeitskategorien aufbrechen und randständige Figuren zentrieren.
Dieser Sammelband möchte anregen Phänomene sozialer Marginalisierung in gerade denjenigen europäischen Literaturen zu untersuchen, die vor der Folie äußerst verhärteter Gesellschaftsstrukturen entstanden sind und somit systematisch die gesellschaftlichen Protagonisten in den Vordergrund stellen (Ständegesellschaft, Aristokratie, Klerus, höfische Eliten, etc.). So sollen die deutsch- und romanischsprachige Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der hegemonialen lateinischen Literaturproduktion auf ihre literarische Ausgestaltung von Randständigkeit befragt und zueinander in Bezug gestellt werden. Das Interesse für randständige Figuren in diesen Texten ist in der Forschung bislang untergeordnet, denn oft sind diese weder ‘Geschichtsträger’ noch geschichtsträchtig und werden bisweilen als austauschbare ‘Typen’ (z.B. Knechte, Mägde, Stalljungen) gelesen. Dass sich am Rande befindliche Figuren aber durchaus als individuelle und vor allem handelnde Akteure profilieren können und dadurch “den Richtungssinn einer Erzählung” (Ulrich 2003) neu ausloten lassen, soll unsere Perspektive und Lesart dieser sekundären Charaktere bestimmen. Randständige Figuren bevölkern auf oft widersprüchliche, aber in jedem Fall komplexe Weise, die europäischen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei sind sie nicht nur in einer Deutungsambivalenz begriffen, sondern zeigen auch Kontinuitäten und Brüche – unter Umständen auch soziale Umbrüche – zwischen mittelalterlicher Tradition und frühneuzeitlicher Darstellung auf.
Diese ergeben sich nicht zuletzt aus der Spannungsverhältnis der soziologischen und narratologischen Marginalitätsbegrifflichkeiten, welche überlappen können, es jedoch nicht müssen: Menschen, die durch ihre Position in Dienstverhältnissen innerhalb einer stark hierarchisierten Ständegesellschaft marginalisiert sind, können narratologische Schlüsselpositionen belegen wie es etwa Lunete in Chrétien de Troyes Yvain ou le Chevalier au lion (1180-90), Laudines Zofe, welche durch geschickte List und Übersetzungskunst die erfolgreich den Abschluss der mit einer Heirat endenden aventure-Folge sichert. Im Gegenzug durchlaufen auch Hauptfiguren, welche in das Zentrum von Erzählungen gerückt werden, Phasen der gesellschaftlichen Randständigkeit, wie es etwa Perceval während seiner fernab von der höfischen Kultur verbrachten Kindheit tut. Die mit den entsprechenden deutschsprachigen höfischen Romanen Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach gegeben Vergleichsgrößen markieren dabei exemplarisch den im Hochmittelalter anzusetzenden chronologischen Ausgangspunkt einer komparativ-interphilologisch aufgestellten Marginalitätsforschung.

Randfiguren, die durch ihre Positionierung in asymmetrischen Dienstverhältnissen gekennzeichnet sind, finden sich bis in die frühneuzeitliche Novellistik und das Renaissance-Theater – vereinzelt auch in der Dichtung – in einer beeindruckenden Bandbreite: So erscheinen Mägde, Knechte, Stalljungen, Kammerzofen, Gärtner, Kutscher, Jäger und Apotheker oft nur en passant, dann wiederum als Handlungsträger, die ganz entscheiden die histoire mitformen, sie teils sogar erzählen. Für die höfische Epik des Hochmittelalters hat Friedrich Michael Dimpel seine Studie Die Zofe im Fokus vorgelegt und für das 17. Jahrhundert ist Jeans Emelinas umfassende Studie zu Knechten und Mägden im Molière’schen Theater (Les Valets et les servantes dans le théâtre de Molière, 1958) der erste wichtige Versuch den literaturwissenschaftlichen Blick auf sekundäre Figuren zu lenken. Für das Spätmittelalter und den vorklassizistischen Zeitraum hingegen scheinen derart untergeordnete literarische Figuren, insbesondere aus interphilologischer Perspektive, bislang kaum erforscht, obschon soziale Randfiguren vermehrt in den Mittelpunkt literarischer Verhandlungen treten – man denke zum Beispiel an La vida de Lazarillo de Tormes (1554) – und die Vielschichtigkeit und Komplexität der (dargestellten) Alltagsrealität abbilden.

Neuere Untersuchungen für die deutschen und romanischen Kulturräume legen den Schwerpunkt bisweilen auf weibliche Randfiguren (Bibring 2008, De Sauza 2008, Dimpel 2011, Hampton 2021). Gemäß der Tradition der mittelalterlichen Farce und Fabliaux wird diese weibliche Randfigur oft als anzüglicher und frivoler Charakter stilisiert, jedoch stets auch als tragische und ohnmächtige Figur; dann wiederum tritt sie als Tugendträgerin auf, die mit Witz und Esprit den Ausgang so mancher Intrige lenkt. Stärker mitzudenken sind darüber hinaus Figuren, die durch ihre Religion und Herkunft am Rand von Literaturen zu verorten sind, die ihr ideologisches Zentrum im christlich geprägten Westeuropa ansetzen. Von der Kreuzzugsliteratur über die Pilgerberichte des Spätmittelalters zu den im 16. Jahrhundert entstehenden ‘Entdeckungsberichten’ zum amerikanischen Kontinent: die in den durch starke Hierarchisierungen und Polarisierungen geprägten Machtgefälle werden rassifiziert oder durch religiöse Differenzen markiert. Demgegenüber ließe sich Randständigkeit aber auch als mögliche Spielart der Selbstinszenierung untersuchen: Es wäre beispielsweise an jene Dichterfiguren zu denken, die sich selbst, bzw. ihre persona, (oft aus strategischen Gründen) als randständig, da ohne Unterstützung durch einen Mäzen und somit sozio-ökonomischen prekär, darstellen.

Die hier angerissenen Fährten zeigen ein breites Spektrum an Randständigkeiten auf. Ihnen gemeinsam ist, dass sie all jene (fiktiven) Figuren als randständig auffassen, die gemeinhin nicht Protagonisten (geschichtsträchtiger) Ereignisse sind oder als sozioökonomisch marginalisierte Akteur*innen auftreten, deshalb oft nur am Rande der Histoire/histoire auftauchen bzw. zumindest immer vom Rand her in den Vordergrund rücken, oder aber am Rande bleiben. Ihre Funktionen sollen in mehrfacher Hinsicht untersucht werden, z.B. in Bezug auf folgende Aspekte:

- (Dynamische) Typologien: Welche Figuren erscheinen am Rand? Wird diese Randständigkeit in ihrer Darstellung ausgehalten oder entstehen Dynamiken zwischen Ein-und Ausschlussszenarien?
- Narratologische Perspektive und Textgattungen: Wer spricht? Wer sieht? Wer handelt? Welche Funktionen nehmen Randfiguren innerhalb der Intrige ein? Lassen sich Frage der Fokalisierung/Perspektivierung aufwerfen? In welchen Textgattungen tauchen randständige Figuren vermehrt auf? Wie sprechen Randfiguren (gibt es eine diaphasische Dimension)?
- Literatursoziologische Perspektive: Soziotopologische Randständigkeit: In welchen sozialen Räumen agieren diese Figuren (privat/öffentlich, sakral/profan)? Weitere soziohistorische Themenbereiche betreffen Alltagsforschung und Haushalt, soziale Bedingungen und Missstände, historische Kontexte und (soziale) Umbrüche, z.B. die Bauernkriege, den Einfluss konfessioneller Umbrüche (Reformation) auf die Darstellung von Randfiguren.
- Verhandlung von asymmetrischen Machtverhältnissen: Verfügungsgewalt- und Emanzipationsszenarien, geographische oder ethnische Randständigkeit, erotische und ökonomische Dominanz, (Kolonial-)Rassismus und Sklaverei, Verknüpfung von sozialer Differenz und Gender Differenz.

Der Sammelband will den wissenschaftlichen Blick auf marginalisierte Figuren in Mittelalter und Früher Neuzeit grundsätzlich aktualisieren und methodisch erweitern. Inter- und transdisziplinäre Beiträge, die auf neuere kultur- und literaturwissenschaftliche Forschungsansätze z.B. aus den Subaltern Studies, den Gender Studies oder den Postcolonial Studies referieren, werden besonders begrüßt. Die Beteiligung von Nachwuchswissenschaftler:innen auf Doc- und Postdoc-Ebene aus der Mediävistik, der Literaturwissenschaft und verwandten Disziplinen ist explizit erwünscht.

Abgabetermin der ersten Manuskriptfassung ist der 31.03.2022. Die Einreichung kann in deutscher, englischer und französischer Sprache erfolgen. Um die Zusendung von Beitragsvorschlägen mit einem Umfang von max. 300 Wörtern inkl. Kurzbiographie wird bis zum 31.08.2022 an folgende Email-Adressen gebeten: sofina.dembruk@phil.uni-goettingen.de, alyssa.steiner@uni-bamberg.de, julien.bobineau@uni-wuerzburg.de

Geplanter Redaktionsablauf

31.08.2021 Einreichung des Abstracts
31.09.2021 Entscheidung über Einladung zur Erreichung
31.03.2022 Abgabetermin der ersten Manuskriptfassung

Bibliographie
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Beitrag von: Sofina Dembruk

Redaktion: Redaktion romanistik.de