Einsatz der Affekte
Momente der Alteritätserfahrung im Schrifttum der europäischen Expansion 1460–1700

Forschungskolloquium an der Ruhr-Universität Bochum
30. März – 1. April 2022

Afecto, Latine affectus.us. propiamente es passion del anima, que redundando en la voz, la altera y causa en el cuerpo un particular movimiento, con que movemos a compassion y misericordia, a ira, y a vengança, a tristeza y alegria […]. (Covarrubias 1611: 17)

Das Schrifttum der europäischen Expansion – d.h. jene Texte, die im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Vereinnahmung der beiden Amerikas, des Fernen Ostens und des Mittelmeerraumes entstehen – umfasst ein breites Spektrum an Textsorten, so etwa Bordbücher, Briefe, Reise-, Schiffbruch- und Gefangenenberichte sowie verschiedene Formen der Historiographie und Kosmographie. Aufbauend auf den wegweisenden Studien von Todorov (La conquête de l’Amérique_, 1982) und Greenblatt (_Marvelous Possessions, 1991) zur Imagologie der ‚Eroberungen‘, hat sich die Forschung diesem Textkorpus bislang unter recht heterogenen Gesichtspunkten genähert. Zunächst sind die historische Fiktionstheorie (vgl. grundlegend Hempfer 2002, weiterführend und am Beispiel der Conquista Mexikos Carman 2006) und Studien zur Narrativierung von Geschichte (im Sinne Hayden Whites) zu nennen, die die fließenden Grenzen zwischen Fakt und Fiktion ebenso thematisieren wie die Nicht-Abgrenzbarkeit der genannten Textsorten zu im modernen Sinne literarischen Texten, wie sich dies paradigmatisch an Cabeza de Vacas Naufragios aufzeigen lässt. Besonderes Interesse gilt außerdem der Dynamisierung von Diskurstraditionen und Gattungsgrenzen, die im Dienst komplexer Legitimationsverfahren stehen kann, wie etwa in Cortés’ Cartas de relación (vgl. hier auch Frömmer 2018 zu Kolumbus und Vespucci). Darüber hinaus werden Fragen des autobiographischen Erzählens und der Emergenz frühneuzeitlicher Subjektivität diskutiert (vgl. Penzkofer 2016 resp. Gumbrecht 1987 und Folger 2011), wie sie sich beispielhaft in Jean de Lérys Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil und den Comentarios reales des Inca Garcilaso darstellen.

Das Forschungskolloquium setzt an diesem Punkt an, um das Schrifttum der europäischen Expansion auf den gemeinsamen Einsatz von Affekten hin zu befragen. Hierbei kann von der leitenden Beobachtung ausgegangen werden, dass den Momenten der Alteritätserfahrung, auf die die genannten und zahlreiche weitere einschlägige Texte des hier betrachteten Zeitraums gründen, ein spezifisches Affektpotenzial eigen ist: Die dargestellte Begegnung mit dem Anderen steht konstitutiv – und ganz im Sinne der zitierten Definition aus Covarrubias’ Tesoro (1611) – im Zeichen des instantanen, starken und nicht steuerbaren ‚Ergreifens‘. Den komplexen Verfahren der Verschriftlichung und Darstellung, aber auch der bewussten Ausklammerung ebendieses Affektpotenzials nachzugehen, lohnt nun aus drei Gründen: Die hier interessierenden Texte sind erstens Dokumente der Zeitgeschichte, die zwar vordergründig Anspruch auf Referenzialität erheben, in die aber zugleich die jeweils individuelle Erfahrung (mit) der Alterität eingeschrieben ist. Es handelt sich zweitens um dezidiert adressatenorientierte und handlungspragmatisch ausgerichtete Texte, in denen Affekte strategisch mit Blick auf Publikations-, Gebrauchs- und Rezeptionskontexte zum Einsatz kommen. Schließlich und drittens ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in Betracht zu ziehen, dass sich der jeweilige dokumentarische Anspruch eben auch an dezidiert poetischen Mitteln und Formen bemisst, die vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Diskussion und Neubewertung der Affekte (vgl. hierzu grundlegend Steiger 2005 sowie jüngst Matzat 2020) auch im Schrifttum der Expansionszeit eine ganz eigene Prägung erhalten.

Tagungsprogramm

Mittwoch, 30. März 2022
14.00 Uhr Dirk Brunke (Bochum) / Hendrik Schlieper (Paderborn): Begrüßung und Einführung: Einsatz der Affekte – Momente der Alteritätserfahrung im Schrifttum der europäischen Expansion 1460-1700

Sektion I: Affektspektren
Moderation: Susanne Friede (Bochum)
14.30 Uhr Roger Friedlein (Bochum): Das Mitleid und die Affekte im Epos der iberischen Expansion: Jerónimo de Corte-Reals Naufrágio de Sepúlveda
15.30 Uhr Kaffeepause
16.00 Uhr Manuel Mühlbacher (München): Die Verdeckung der Angst: Zur Steuerung phobischer Affekte in der Neuen Welt
17.00 Uhr Hendrik Schlieper (Paderborn): Staunen: Zur Funktion eines starken Affekts in Bernal Díaz del Castillos Historia verdadera de la conquista de la Nueva España

Donnerstag, 31. März 2022
Sektion II: Körper
Moderation: Corinna Albert (Bochum)
10.00 Uhr Stephanie Béreiziat-Lang (Heidelberg): Kannibalismus und textuelles Unbehagen (Jean de Léry, José de Anchieta, Álvar Núñez Cabeza de Vaca)
11.00 Uhr Romana Radlwimmer (Tübingen): Rhetorik der Affekte: Biopolitische Auseinandersetzungen zur Entdeckung und Eroberung
12.00 Uhr Mittagspause (Mensa)

Sektion III: Vertextungsverfahren
Moderation: Hendrik Schlieper (Paderborn)
13.30 Uhr Fernando Nina (Heidelberg): Bild, Körper, Schrift und „hütendes Schauen“ in Waman Pumas Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno (1615)
14.30 Uhr Dirk Brunke (Bochum): Mitleid in der iberoromanischen Narrativik der Expansionszeit
15.30 Uhr Kaffeepause
16.00 Uhr Luis Castellví Laukamp (Manchester): La influencia de la literatura de cordel en la primera crónica hispanofilipina

Freitag, 1. April 2022
9.00 Uhr Elisabeth Kruse (München): Die Funktion der Affekte bei der Hybridisierung von Berichten der europäischen Expansion: der Fall von Ruy Díaz de Guzmáns La Argentina
10.00 Uhr Kaffeepause

Sektion IV: Rahmungen
Moderation: Dirk Brunke (Bochum)
10.30 Uhr Jörn Steigerwald (Paderborn): Affizierte und affizierende Alteritätserfahrung: zu Montaignes Essais I, 31 und III, 6
11.30 Uhr Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Internationale Affekte. Die ‚Übersetzung‘ von Guillaume Raynals Histoire des deux Indes durch den Duque de Almodóvar
12.30 Uhr Dirk Brunke (Bochum) / Hendrik Schlieper (Paderborn): Zusammenfassung und Verabschiedung

Beitrag von: Dirk Brunke

Redaktion: Robert Hesselbach