Themenstellung

„Es kommt mir aber unmännlich vor, Frauen als Sündenböcke hinzumodeln“, sagt Kai Carlsen, der angehende Schriftsteller, in Ralf Rothmanns Roman Stier (1991). Er greift eine literarische Tradition auf, in der sich die kultur- und sozialgeschichtlich brisante Frage nach der Theatralität des Opfers mit einer geschlechtersemantischen Codierung verbindet.

Kulturanthropologischen Thesen zufolge (Benjamin 1928/1974, Burkert 1990, Girard 1992) entstand die Tragödie (altgriech. für „Bocksgesang“) aus dem Opferritual; der tragische Held könne als Kultursublimat des Sündenbocks verstanden werden. Für diese Auffassung spräche immerhin, dass die Kategorie des Opfers in der Geschichte der Tragödie und ihrer Poetik immer wieder reflektiert wird. Es ist das Drama, das im Zeitraum von 1760–1850 maßgeblich die kulturelle Transformation des Sacrificiums, das das Opfer ursprünglich gewesen ist, in eine Victima, oder genauer: die Adelung der unschuldigen Victima zum Sacrificium besorgt. Das Drama mobilisiert kulturelles Kapital für die Opfer, vornehmlich in Gestalt der empathischen Identifikation, und legt darin die Gründe noch für gegenwärtige Opferdiskurse in ihrer Legierung mit Genderproblematiken.

Die dramatische Erfolgsgattung schlechthin, das bürgerliche Trauerspiel (Mönch 1993), bringt die Funktion des tragischen Helden/der tragischen Heldin mit den seinerzeit akuten Diskursen der Geschlechteranthropologie (Honegger 1991, Kucklick 2008, Tosh 1999/2005) in Verbindung. Es war insbesondere Lessing, der die Position der tragischen Heldin genderbezogen codiert und sie einer metapoetischen Reflexion unterzogen hat. Seither besetzt auffallend häufig das weibliche Opfer die tragische Position und komplementär nimmt männliche Täterschaft die antagonistische Position ein.

Und so prägt Lessing ein wirkmächtiges Schema, das sich in mimetischer Anknüpfung oder Konkurrenz in der kanonischen oder den Kanon flankierenden Dramatik über Lenz, Klinger, Schiller, Gotter, Goethe und Kleist bis hin zu Hebbel, Grillparzer und darüber hinaus fortschreibt. Neu daran erscheint die explizite Reflexion der Geschlechtlichkeit in Verbindung mit der tragischen Funktion.
Wir vermuten, dass die vom bürgerlichen Trauerspiel angekurbelte Dramenkonjunktur alsbald von der jungen Gattung Roman zum Prestigegewinn genutzt wird. Die Häufigkeit, mit der Lessings Emilia Galotti als Intertext adressiert wird, weist bereits darauf hin: In seiner _Roman_theorie behandelt Friedrich von Blanckenburg die Figur der Emilia als neben Agathon oder Musarion leuchtendes Vorbild für eine glaubwürdige, innen- wie außenmotivierte Charaktergestaltung. Romane oder Erzählungen wie Goethes Werther, Lenz‘ Zerbino, Ludwig Tiecks William Lovell, Kleists Marquise von O…., Goethes Wahlverwandtschaften, Flauberts Madame Bovary oder Fontanes Effi Briest werden die Gattungsgrenze und mit ihr geschlechtlich codierte Opferdramaturgien erzählend beobachten. Sowohl Emma Bovary als auch Effi Briest zelebrieren ihr Sterben in opferkultischen bzw. opfersemantischen Kontexten. Sie führen gleichsam die lange Liste paradigmatischer prosaischer Distanzierungen von der Theatralität des Opfers im 19. Jahrhundert an.

Das enge Band zwischen Gender, Tragödie und Opfer zieht sich durch Prosatexte von Arthur Schnitzler und Maria Janitschek, über Hermann Broch und Robert Musil bis in die Gegenwart hinein, zu Julia Franck, Elfriede Jelinek, Peter Handke oder, über die Literatur hinaus, bis hin zu Lars von Trier. Anscheinend hat sich das weibliche Opfer als dramaturgische Konstellation und als „Narrativ“ fest etabliert, viktimologisch wie sakrifiziell, diesseits wie jenseits von Bühne und Buch. In der erzählenden Beobachtung dramatischer Opferdynamiken seit dem 18. Jahrhundert lassen sich, zusammengefasst, in ästhetischer Hinsicht Tendenzen einer Paragone zwischen der wirkmächtigsten Gattung, als die das Drama im 18. Jahrhundert begriffen wurde, und den Kunstformen narrativer Vergegenwärtigung und Distanznahme erkennen. In kulturwissenschaftlicher Sicht zeichnen sich die Konturen einer Kritik der literarischen Viktimologie ab, einer Kritik der ästhetischen Opferpolitik, wie sie Lessing mitbegründet hat und deren Erfolge seither nie abgerissen sind.

Ziel des Workshops

Zugespitzt geht es auch darum, im Prosa- und Filmarchiv zu prüfen, inwiefern und in welchem Ausmaß der gesellschaftliche Wandel in der Reflexion von Geschlechterdifferenzen bis in die Gegenwart hinein auf die nachhaltige Wirksamkeit dieser spezifisch literarischen Opferkonstruktion angewiesen ist.

Dazu wollen wir anhand von stichprobenartig ausgewählten Beispielen die Wiederaufnahme oder Transgression der beschriebenen Opferdramaturgie in führenden Erzählmedien bis zur Gegenwart besser verstehen. Der Nachweis, dass die gattungspoetologischen Innovationen zutiefst in zeitgenössische geschlechteranthropologische Diskurse eingebettet sind, soll exemplarisch die kulturelle und geschlechterpolitische Brisanz ästhetischer, erzählender und dramatischer Gebilde erhellen und komplementär über die ästhetischen Dimensionen hinter den Diskursen und Praktiken aufklären.

Besonders zu beachtende Punkte:
• Drama als Intertext
• Ritual und Inszenierung
• Ästhetik des Opfers und Nachahmungsdynamiken
• Die Selbstpositionierung als Opfer
• Opfer und Gender

Als Keynote konnten wir Prof. Dr. Barbara Vinken gewinnen.

Lektüre-Anregung:

Uwe C. Steiner: Ästhetische Viktimologie. Opferanmaßung und Opferkritik bei Goethe und einigen seiner Zeitgenossen.
https://iablis.de/iablis/themen/2018-die-ungleichen-gleichen/thema-2018/474-aesthetische-viktimologie
Ders.: Gerechtigkeit für Odoardo Galotti. Ein Theatercoup mit Folgen: Wie Lessing das tragische Opfer geschlechteranthropologisch umwidmet und damit von Bodmer bis zur Gegenwart wirkt, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 95, Heft 1/März 2021, S. 43–80. http://link.springer.com/article/10.1007/s41245-021-00124-8

Der Workshop findet am 03. und 04. Februar 2023 im Campusstandort Berlin der FernUniversität in Hagen statt. Die Reise- und Übernachtungskosten können im üblichen Umfang übernommen werden. Eine Publikation der Beiträge in einem Sammelband ist geplant.

Für den Workshop erwarten wir von den Teilnehmer*innen zwei Wochen vor dem Workshop die ausformulierten Papers von acht bis zehn Seiten (max. 25. 000 Zeichen mit Leerzeichen), die im Workshop mittels eines Respondenz-Verfahrens von maximal 15 Minuten vorgestellt und danach diskutiert werden. Relevante Materialien (Textstellen, Abbildungen, Filmausschnitte etc.) können gerne mitverschickt werden.

Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 1 Seite) sowie eine Kurzbiografie bis zum 30. September 2022 an:

Prof. Dr. Uwe Steiner: Uwe.Steiner@fernuni-hagen.de
Dr. Wim Peeters: Wim.Peeters@fernuni-hagen.de

Interne Forschungsfördermaßnahme ›Genderforschung‹ – Gleichstellungskonzept 2019-2022

Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medientheorie
FernUniversität in Hagen | Universitätsstr. 33 | 58084 Hagen | Deutschland

Beitrag von: Anna Maria Spener

Redaktion: Robert Hesselbach