Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

Sektion 5: Ursachen und Wirkungen von Salienz in Variation, Kontakt und Wandel

Sektionsleitung: Barbara Schirakowski (FU Berlin), Anne Wolfsgruber (HU Berlin)
Kontakt: barbara.schirakowski@fu-berlin.de, anne.wolfsgruber@hu-berlin.de

Salienz ist ein viel bemühtes Konzept, das nicht nur in zahlreichen Teildisziplinen der Sprachwissenschaft, sondern auch in vielen allgemein an Kognition interessierten Disziplinen Anwendung findet. In der Linguistik wird Salienz u.a. in Arbeiten zu Sprachwandel, Sprachkontakt, Spracherwerb und Variation thematisiert. Im weitesten Sinn lässt sich Salienz als die besondere Auffälligkeit oder Prominenz eines Merkmals (im Vergleich zu anderen) definieren. Allerdings gibt es keinen allgemein anerkannten Konsens darüber, was genau unter Salienz zu verstehen ist, welche Arten von Salienz – etwa kognitive, perzeptuelle oder soziolinguistische – unterschieden werden müssen und welchen Erklärungswert Salienz zur Ergründung bestimmter sprachlicher Phänomene beiträgt. Potenziell problematisch ist auch, dass der Salienzbegriff in vielen Studien ohne Definition verwendet wird. Sind Definitionen vorhanden, lässt sich mitunter Zirkularität beobachten oder auch der Rückgriff auf Begriffe wie (Un-)Erwartetheit oder Markiertheit, die ihrerseits Herausforderungen bergen (vgl. Boswijk & Coler 2020; Kerswill & Williams 2002; Rácz 2013; zu Markiertheit z.B. Haspelmath 2006).

Vor diesem Hintergrund erscheint es wünschenswert, Konzeptualisierungen von Salienz genauer zu hinterfragen und dabei, wie es z.B. Auer (2014) vorschlägt, klar zwischen Ursachen und Wirkungen von Salienz zu unterscheiden. In der Regel wird Salienz als ein auf Hörer*innen bezogenes Konzept beschrieben. Unter dieser Sichtweise sind Elemente nicht intrinsisch salient, sondern werden als salient wahrgenommen, wobei die Wahrnehmung ein überindividuelles Phänomen darstellt, also in der Regel von einer Gruppe von Sprecher*innen geteilt wird. Ursachen dafür, dass ein Merkmal als salient wahrgenommen wird, können z.B. Phonemstatus, hohe oder niedrige Frequenz oder auch geographische Reichweite sein. Wirkungen von Salienz zeigen sich etwa in Akkommodation und im Sprachwandel.

Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Salienz auch durch mehrere Ursachen bedingt sein kann. Studien zeigen, dass stärker grammatikalisiertes (morpho-)syntaktisches Material tendenziell als weniger salient wahrgenommen wird, weil es bedingt durch hohe Frequenz und entrenchment an phonologischem Gewicht und Material verliert, durch Betonung nicht hervorgehoben werden kann und auch die Gestik an diesen Stellen nicht (mehr) zur Verstärkung eingesetzt wird. Betonte Elemente gehören oft den offenen Klassen an und stellen in der Regel lexikalisches Material dar, von dem bekannt ist, dass es anders erworben und verarbeitet wird als grammatikalisierteres Material (vgl. Ellis 2017; Friederici 1982). Ein interessantes Beispiel kommt hierbei aus der Klasse der Präpositionen. Während die hoch grammatikalisierten Präpositionen bzw. Komplementierer à und de in den französischbasierten Kreolsprachen weitgehend getilgt wurden, hat die lexikalische Präposition pour nicht nur weiter Bestand (pou), sondern hat sich auch wesentlich weiterentwickelt und fungiert als Komplementierer, Irrealis-, Modalitäts- und Futurmarker (vgl. Syea 2017).

Geringe Salienz ist jedoch nicht zwingend die Folge von hoher Frequenz, sondern kann sich auch aus niedriger Vorkommenshäufigkeit ergeben. Dieser Zusammenhang ist in zahlreichen Arbeiten zu Ereignisversprachlichung, insbesondere anhand von Bewegungsereignissen und der semantisch-konzeptuellen Komponente manner ‚(Bewegungs-)art‘, untersucht worden (vgl. z.B. Aurnague & Stosic 2019, Stosic 2009 zum Französischen). So wird Talmys typologische Unterscheidung zwischen verb-framed-Sprachen, zu denen die romanischen Sprachen (überwiegend) zählen, und satellite-framed-Sprachen oft auch als ein Kontinuum von manner-Salienz erfasst (vgl. Slobin 2006). Den romanischen Sprachen wird üblicherweise eine niedrige manner-Salienz zugesprochen, da sie im Vergleich zu typischen satellite-framed-Sprachen über kleinere Inventare an manner-Verben verfügen und manner-Verben nur begrenzt mit Zielangaben kombinieren können. Studien, die auf Slobins (1987) thinking-for-speaking-Theorie basieren, zeigen, dass Sprecher*innen romanischer Sprachen der lexikalische Zugriff auf manner-Verben vergleichsweise schwerfällt und sie manner seltener lexikalisieren als Sprecher*innen typischer satellite-framed-Sprachen (vgl. u.a. Cardini 2008 zum Italienischen; Slobin 1996 zum Spanischen). Veränderungen lassen sich in Situationen beobachten, in denen manner kontextuell bedingt besonders salient wird (vgl. Feist, Rojo López & Cifuentes Férez 2007) oder in denen enger Kontakt zu satellite-framed-Sprachen besteht, denen eine hohe manner-Salienz attestiert wird (vgl. z.B. Goldschmitt 2012 zu Spanisch und Aymara in Bolivien; Stocker & Berthele 2020 zu Französisch und Deutsch in der Schweiz).

Auch im Hinblick auf semantische und diskurspragmatische Faktoren, welche die klitische Verdoppelung und/oder differentielle Objektmarkierung (DOM) in zahlreichen romanischen Varietäten bedingen, spielt Salienz eine zentrale Rolle. So ist bekannt, dass besonders saliente Argumente bzw. solche, die einen salienten Referenten haben, eher eine besondere Markierung erhalten als Argumente, die niedrig salient sind. Eigenschaften, die mit hoher Salienz einhergehen, sind etwa Belebtheit, Definitheit, Spezifizität, Affiziertheit und Topikalität. Das komplexe Zusammenspiel dieser und weiterer Faktoren ist Gegenstand umfangreicher Forschung (für neuere Studien zu DOM vgl. u.a. von Heusinger & Kaiser 2011; Kabatek, Obrist & Wall 2021; zur klitischen Verdoppelung Fischer & Rinke 2013; Rinke, Wieprecht & Elsig 2019; zu beiden Phänomenen Leonetti 2008; Fischer & Navarro 2016). Dabei stellt sich stets die Frage, ob Salienz die Ursache für differentielle Argumentmarkierung darstellt und/oder ob ein Argument in Folge seiner speziellen Markierung als besonders salient wahrgenommen wird. In Bezug auf die zweite Möglichkeit ist auch perzeptuelle Salienz von Belang. Für DOM ist z.B. gezeigt worden, dass die rumänische Markierung pe, die über eine CV-Struktur verfügt, von Herkunftssprecher*innen des Rumänischen eher beibehalten wird als sp. a von Herkunftsprecher*innen des Spanischen, insbesondere, wenn a einem Verb in der 3. Sg. folgt wie in Llama (a) Pedro (vgl. Montrul & Bateman 2020).

Fragen, die in der Sektion thematisiert werden sollen, sind beispielsweise folgende:

  • Welche Konzeptualisierungen von Salienz sind notwendig, um die o.g. und andere in den romanischen Sprachen einschlägige Phänomene adäquat zu beschreiben und zu erklären, und inwieweit ist Salienz überhaupt ein Konzept mit explanatorischer Kraft?
  • In welchem Verhältnis steht Salienz zu Frequenz? Wann korreliert Salienz mit hoher, wann mit niedriger Frequenz?
  • In welchen Konstellationen kann Salienz als Ursache für ein bestimmtes Phänomen angesehen werden, und in welchen Szenarien stellt Salienz die Folge einer Erscheinung dar?
  • Wie lassen sich Konzeptualisierungen von Salienz operationalisieren? Mit welchen empirischen Methoden kann welche Art von Salienz gemessen werden? Wofür können insb. korpusbasierte und experimentelle Ansätze (sowohl Produktions- als auch Perzeptionsstudien) sinnvoll eingesetzt werden?

Das Ziel der Sektion besteht darin, Arbeiten unterschiedlicher theoretischer und empirischer Ausrichtung zusammenzubringen, die sich mit den Ursachen und Wirkungen von Salienz anhand von Fallbeispielen aus den romanischen Sprachen befassen. Forschungsfelder, die im Rahmen der Sektion thematisiert werden sollen, umfassen u.a. Konstituentenabfolgen, Argumentmarkierung und Lexikalisierungsmuster. Dabei sollen klare Definitionen von Salienz herausgearbeitet und ihre Relevanz für die untersuchten Forschungsfelder kritisch reflektiert werden. Angestrebt wird zudem ein Austausch über methodische Vorgehensweisen zur Untersuchung von Salienz.

Wir freuen uns auf Vorschläge für Sektionsbeiträge. Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 4000 Zeichen inklusive Leerzeichen und Bibliographie) bis zum 31. Dezember 2022 an barbara.schirakowski@fu-berlin.de und anne.wolfsgruber@hu-berlin.de.

Literaturangaben (Auswahl)
Auer, Peter 2014. Anmerkungen zum Salienzbegriff in der Soziolinguistik. Linguistik Online, 66(4).
Aurnague, Michel & Dejan Stosic (Hgg.). 2019. The semantics of dynamic space in French. Descriptive, experimental and formal studies on motion expression. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins.
Boswijk, Vincent & Matt Coler. 2020. What is salience? Open Linguistics 6(1), 713-722.
Cardini, Filippo-Enrico. 2008. Manner of motion saliency: An inquiry into Italian. Cognitive Linguistics 19(4), 533–569.
Ellis, Nick C. 2017. Salience in language usage, learning and change. In Marianne Hundt, Sandra Mollin & Simone E. Pfenninger (Hgg.), The changing English language: Psycholinguistic perspectives, 71-92. Cambridge: Cambridge University Press.
Feist, Michele, Ana Rojo López & Paula Cifuentes Férez. 2007. Salience and acceptability in Spanish manner verbs: A preliminary view. International Journal of English Studies 7(1), 137-148.
Fischer, Susann & Mario Navarro (Hgg.). 2016. Clitic doubling and other issues of the syntax-semantic interface in Romance DPs. Proceedings of the VII Nereus International Workshop. Arbeitspapier 128. Fachbereich Sprachwissenschaft, Universität Konstanz.
Fischer, Susann & Esther Rinke. 2013. Explaining the variability in clitic doubling across Romance: a diachronic account. Linguistische Berichte 236, 455-472.
Friederici, Angela D. 1982. Syntactic and semantic processes in aphasic deficits: The availability of prepositions. Brain and Language 15(2), 249-258.
Goldschmitt, Stefanie. 2012. Bewegungsereignisse im bolivianischen Spanisch. In Barbara Sonnenhauser, Patrizia Noel, Patrizia & Caroline Trautmann (Hgg.), Diskussionsforum Linguistik in Bayern / Bavarian Working Papers in Linguistics 1: Schnittstellen. 37-51.
Haspelmath, Martin. 2006. Against markedness (and what to replace it with). Journal of Linguistics 42(1), 25-70.
Heusinger, Klaus von & Georg Kaiser. 2011. Affectedness and differential object marking in Spanish. Morphology 21, 593-617.
Kabatek, Johannes, Philipp Obrist & Albert Wall (Hgg.). 2021. Differential object marking in Romance – the third wave (Beiheft zur Zeitschrift für Romanische Philologie). Berlin: de Gruyter.
Kerswill, Paul & Ann Williams. 2002. ‘Salience’ as an explanatory factor in language change: evidence from dialect levelling in urban England. In Mari C. Jones & Edith Esch (Hgg.), Language change: the interplay of internal, external and extra-linguistic factors. Berlin: De Gruyter Mouton, 81-110.
Leonetti, Manuel. 2008. Specificity in clitic doubling and in differential object marking. Probus 20(1), 33-66.
Montrul, Silvina & Nicoleta Bateman. 2020. Vulnerability and stability of differential object marking in Romanian heritage speakers. Glossa: a journal of general linguistics 5(1): 119, 1-35.
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Rácz, Péter. 2013. Salience in sociolinguistics: a quantitative approach. Berlin: De Gruyter Mouton.
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Slobin, Dan I. 2006. What makes manner of motion salient? Explorations in linguistic typology, discourse, and cognition. In Maya Hickmann & Stéphane Robert (Hgg.), Space in languages: linguistic systems and cognitive categories, 59-81. Amsterdam: John Benjamins.
Stocker, Ladina & Raphael Berthele. 2020. The roles of language mode and dominance in French-German bilinguals’ motion event descriptions. Bilingualism: Language and Cognition 23(3), 519-531.
Stosic, Dejan. 2009. La notion de ‘manière’ dans la sémantique de l’espace. Langages 175, 103-121.
Syea, Anand. 2017. French Creoles: A comprehensive and comparative grammar. London/New York: Routledge.

Beitrag von: Barbara Schirakowski

Redaktion: Robert Hesselbach