Verlängerte Frist bis zum 31.01.2023

Sektionsleitung: Prof. Dr. Anne-Sophie Donnairiex (Saarbrücken), Dr. Greta Lansen (Mannheim) & Julia Görtz (Mannheim)

Der Begriff der Virtualität beinhaltet die Philosophie des Möglichen. Sie ist ein „Noch nicht“- oder „Als ob“-Modus und die große Vielfalt, wenn nicht gar Beliebigkeit, möglicher Verwendungsweisen führt nicht selten zu Verwirrung (Kasprowicz/Rieger, 2020). In der Literaturwissenschaft wird der Begriff laut Natalie Binczek und Armin Schäfer maßgeblich als technisch bedingte Kategorie verstanden, die in die Trias von Realem, Fiktivem und Imaginärem hineinspielt (Binczek/Schäfer, 2020). Auch Karl-Heinz Stierle argumentiert diesbezüglich, dass wenn das Fiktive seinen Grund im Imaginären hat, die Virtualität ihren Grund im Realen haben muss, und zwar im technisch-Realen. Er begreift Virtualität folglich als eine computergestützte Figuration des Imaginären (Stierle, 2002). Insgesamt lässt sich in der zeitgenössischen Literaturtheorie eine medientechnologische Fixierung auf Virtualität feststellen. Der Begriff wird aber auch in anderen Kontexten verwendet. So belegen begriffsgeschichtliche und historische Befunde, dass der Terminus Virtualität schon seit dem späten 19. Jahrhundert als Bezeichnung von diversen Phänomenen und Sachverhalten gebraucht wurde, etwa in der Evolutionstheorie oder der Philosophie. Hier ist nicht die Rechenmaschine der Bezugspunkt, sondern eine menschliche Größe: jene der Phantasie. Auch diese Bedeutungsebene von Virtualität soll in der Sektionsarbeit beleuchtet werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Dezentrierung bzw. Zersplitterung, Verdoppelung, Verwandlung oder Verschiebung, die ein Subjekt erfahren kann oder erfahren muss, wenn es in virtuelle Welten eintaucht – seien sie technisch realisiert oder potentialisierte Wirklichkeitsräume. Bereits in der Fiktion des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Erfahrung einer virtuellen Dezentrierung des Subjekts anthropologisch-philosophisch erkundet und literarisch ausgestaltet, von Mary Shelleys Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818), Théophile Gautiers Avatar (1857), Charles Baudelaires Les paradis artificiels (1860), Benito Pérez Galdós’ La sombra (1870/1871) bis zu Luigi Pirandellos Il fu mattia Pascal (1904) und Italo Calvinos Il visconte dimezzato (1951). Mit Einzug der sich rasant entwickelnden Technologien der Virtual Reality wird die Dezentrierung des Subjekts in den letzten Jahrzehnten dabei nicht nur in interaktiven Immersions-Medien erfahrbar gemacht, sondern weiterhin auch in der Literatur ausgehandelt. Camille Laurens Celle que vous croyez (2016), Samanta Schweblins Kentukis (2018) oder Karoline Georges De Synthèse (2017) zeugen von einer Erweiterung und Verschiebung des klassischen Subjektbegriffs als hypokemenon (dem Zugrundeliegenden) und subiectum (dem Unterworfenen), da Subjektivität im Rahmen der technisch-realisierbaren Virtualität zunehmend unabhängig vom organischen Körper neu gedacht werden kann.

Die subjektbezogenen Möglichkeitsräume der Virtualität fordern hier weniger die menschliche Vorstellungskraft an sich heraus, als vielmehr die noch immer bewährte cartesianische Ausgangsdifferenz zwischen einem singulären Körper und einer Seele, die das Individuum definiert. Die diesem Terminus zugrundeliegende Bedeutung (individuus = unteilbar/untrennbar) versinnbildlicht die Konzeption einer einzelnen, für sich existierenden Person als unteilbare Einheit, die über eine Seele mit Sitz in einem Körper verfügt. Ist diese Einheit nicht gegeben, oszilliert das Subjekt zwischen Identitätsspaltung („Zwey Seelen wohnen, Ach! in meiner Brust“, ruft Goethes Faust), Jenseits-Erfahrung („ché tèn di me quel d’entro, et io la scorza”, heißt es in Petrarcas Canzoniere XXIII) oder aber seelisch-körperlicher Unvollständigkeit (wie es Calvinos geteilter Visconte veranschaulicht).

Der Körper ist im Zuge der Säkularisierung der Moderne zu dem wohl wichtigsten Faktor der Individuation geworden, nicht nur mit der Anerkennung der Einzigartigkeit des Gesichts, sondern weiter gefasst, indem der Körper zur objektiven Umgrenzung der Souveränität des Egos gemacht wurde (Le Breton, 2000).In dieser Sektion sollen vor allem Subjektformen erforscht werden, welche durch virtuelle Paradigmen gestört, dezentriert, vervielfacht oder zersplittert werden. Die Dezentrierung ist aus diesem Grund nach dem Konzept einer “déterritorialisation” (Deleuze/Guattari, 1975) zu verstehen: Mit ihr geschieht eine nicht vollendete, subjektbezogene Verwandlung, die Signifikate und Signifikanten immer wieder verschiebt und umformt, sodass sich Identität (im biologischen, literarischen oder soziopolitischen Sinne) als ein stets werdendes, neu zu deutendes Konstrukt entfaltet, das es als solches zu analysieren gilt.

Auch die heutige Herausbildung simulierter Identitäten bildet einen der Kernpunkte der Sektionsarbeit. Was passiert, wenn die virtuellen Welten in den Alltag eintreten und über Bildschirme, soziale Netzwerke und fingierte Wirklichkeitsräume gänzlich neue Identitätskonfigurationen herbeiführen? Welche ästhetischen Formen werden erprobt, um diese virtuellen Selbstinszenierungen zu erzählen und die damit einhergehende Dezentrierung des Subjekts auch literarisch zu entfalten? Im Gegensatz zu den Ovid’schen Verwandlungen, bei denen die körperliche Metamorphose nicht notwendig eine geistige oder seelische Identitätsstörung voraussetzt, stellt das Zeitalter der „Hyperrealität“ (Baudrillard) die Frage der Untrennbarkeit des Individuums vor gänzlich neue Herausforderungen. In diesem Rahmen können können beispielsweise die Inszenierungen digitaler Avatare und virtueller „Faux-self“ (Winnicott) erforscht werden, wie etwa bei den Romanen von Sandra Lucbert (La toile), Gabriel Naëj (Ce matin, maman a été téléchargée), Ernest Clines (Ready Player One). Es kann darüber hinaus untersucht werden, inwiefern Autor:innen auf bekannte, traditionsreiche Motive zurückgreifen (Doppelgänger, Geister, Golem, Cyborgs), um neuartige Ontologien zu problematisieren, welche sich außerhalb vertrauter Vorstellungsmuster offenbar schwer ausdrücken lassen.

Es soll außerdem auf die literarische Darstellung posthumanistischer Subjektivitäten eingegangen werden. Wenngleich der Begriff im Zuge neuer Technologien und wissenschaftlicher Fortschritte der letzten Jahrzehnte eine starke Expansion in den westlichen Kulturen erfährt (Maftei, 2021), reichen seine Wurzeln jedoch mindestens bis zu den Automaten, Klonen oder golemartigen Kreaturen der europäischen Romantik, die bereits damals die Grenzen des menschlichen Körpers und Geistes in Frage stellten. Die Beispiele reichen von Villiers de L’Isle-Adam und E.T.A. Hoffmann bis zu den Gegenwartsromanen, -erzählungen und -dramen von Marie Darrieussecq (Notre vie dans les forêts), Michel Houellebecq (La possibilité d’une île), Juan Mayorga (El Golem), Pierre Ducrozet (L’invention des corps), Leonardo da Jandra (Distopía), Carmen Boullos (La novela perfecta), Lina Meruane (Póstuma), Laura Pugno (Sirene), Niccolò Ammaniti (Ferro) oder Tiziano Scarpa (Acqua). Dabei können die Inszenierungen verwandelter, gebesserter oder geänderter Körper untersucht, der intertextuelle Rückgriff auf mythische oder prometheische Subjektstrukturen hinterfragt, und schließlich die politischen und ästhetischen Implikationen eines transhumanistischen Gedankenguts analysiert werden, welches weniger die Verbesserung isolierter Körper als eine kollektive, technologische Transformation der Menschheit heraufbeschwört (Hunyadi, 2018). Welche Möglichkeiten der Subjektbildung ergeben sich daraus? Können im Zuge dieses virtuellen Enhancement neue Ontologien festgestellt werden?

Die Sektion fokussiert derartige literarische Subjektverschiebungen sowohl im Rahmen einer rein imaginierten Virtualität als auch im Rahmen der technisch-bedingten virtual reality und umfasst dabei primär die literarische Produktion vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Aufgrund der ausgewählten Themenbereiche sind außerdem Beiträge zur intermedialen Aushandlung virtueller Subjektivität willkommen.

Abstracts sollten maximal 4.000 Zeichen umfassen (einschließlich Leerzeichen und bibliographischer Angaben). Bitte senden Sie Ihren Vortragsvorschlag bis zum 31. Januar 2023 an lansen@uni-mannheim.de.

Auswahlbibliographie

Baudrillard, Jean: Simulacres et simulation. Paris: Galilée 1981.
Binczek, Natalie/Schäfer, Armin: „Virtualität der Literatur: eine Sondierung“, in: Rieger, Stefan/Schäfer, Armin/Tuschling, Anna (Hrsg.): Virtuelle Lebenswelten. Körper – Räume – Affekte, Berlin/Boston: De Gruyter 2020, S. 87–102.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Kafka. Pour une littérature mineure, Paris: Minuit, 1975.
Hunyadi, Mark: Le temps du posthumanisme. Un diagnostic d’époque, Paris: Les belles lettres, 2018.
Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan: „Einleitung: eine neue Standortbestimmung“, in: Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan (Hrsg.): Handbuch Virtualität. Wiesbaden: Springer 2020, S. 2–22.
Le Breton, David: Anthropologie du corps et modernité. Paris: PUF 2000.
López-Pesilla, Teresa: Patologías de la realidad virtual. Cibercultura y ciencia-ficción. Madrid: Fondo de Cultura Económica, 2015.
Maftei, Mara Magda (Hg.): Transhumanisme et fictions posthumanistes, in: Revue des Sciences Humaines, 341, Januar-März 2021.
Stierle, Karlheinz: „Fiktion“, in: Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Wolfzettel, Friedrich/Steinwachs, Burkhart (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 2, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 380–428.

Beitrag von: Greta Lansen

Redaktion: Robert Hesselbach