Stadt: Münster

Frist: 2023-01-31

Beginn: 2023-06-23

Ende: 2023-06-24

Neue Entwicklungen und Tendenzen in den Sprachen zeigen sich zuerst im Wortschatz. Zum einen manifestieren sich Einflüsse direkt in Form von Fremdwörtern und Entlehnungen, zum anderen indirekt über Prozesse auf morphologischer und morphosyntaktischer Ebene, z.B. in den Mustern von Wortstellung und Wortbildung. In einem Übergangsbereich zwischen beiden Ebenen stehen Lehnübersetzungen und hybride Wortformen. Der indirekte Einfluss ist dabei umso deutlicher zu erkennen, je stärker sich beide Sprachen typologisch unterscheiden.
Im Laufe der letzten Jahrhunderte gab es v.a. unter den romanischen Sprachen wechselseitige Einflüsse, ein prominentes Beispiel ist das Französische. Den größten Einfluss hat seit dem 19. Jh. das Englische, seit Mitte des 20. Jh. zunehmend das amerikanische Englisch, wobei sich die Situation in den einzelnen romanischen Ländern quantitativ und qualitativ unterscheidet. In allen Ländern werden heute in großer Zahl englische Fremdwörter v.a. in den Medien genutzt (organic, teatime, stretching etc.), um eine bestimmte stilistisch motivierte Textwirkung zu erzielen, unabhängig von der Existenz romanischer Alternativen. Davon sind ‚echte‘ Neologismen zu unterscheiden, denen ein konkretes, textsortenunabhängiges und dauerhaftes Bezeichnungsbedürfnis zugrundeliegt und die eine breite Sprecherakzeptanz finden (vgl. frz. look, brunch, scanner, it. blog, part time, doping, span. escáner, dumpin(g), outdoor), wobei grundsätzlich jeweils romanische Alternativen denkbar sind. Den Schlüssel für die Deutung dieser Prozesse liefert die Sprechermotivation, ohne die z.B. sog. Pseudoanglizismen, also semantisch ‚falsche‘ Entlehnungen, nicht erklärbar wären (vgl. frz. pressing, campingcar; it. aquagym, autogrill, span. footing, puenting). Im Sinne der Sprachökonomie und unter Inkaufnahme von Mehrdeutigkeit sind auch Kürzungen weit verbreitet (vgl. frz. cardio (-training), it. audience (-rating), self (-service), span. christmas (card) etc.). So wie etablierte Schlüsselwörter textsortenabhängig im Bereich von Mode, Kulinarik und Technik die Nutzung konzeptuell benachbarter Formen fördern, erleichtern sie nach Bedarf ebenfalls den Wortartwechsel sowie Ableitungen nach typischen Mustern (vgl. frz. bruncher, scanner, it. googlare, shoppare, span. whatsappear, googlear, mutear, etc.) Ein indirekter sprachlicher Einfluss führt zu den zunächst oft unbemerkten semantischen Entlehnungen, bei denen neue Bedeutungen lexikalisiert werden (oder: auf dem Weg zur Lexikalisierung sind), wie etwa im Fall von frz. essai, entraîner, réaliser, pare-feu, it. finalizzare, girotondo, span. bizarro, basado en…, condición, severo.
Generell lassen sich lexikalische Übernahmen aus anderen Sprachen durch das Bedürfnis nach kultureller Zugehörigkeit oder Aneignung, aber nachgeordnet auch, wie im Fall des Englischen, mit dem Bedürfnis nach Kürze und Konzision z.B. im fachsprachlichen Bereich begründen. Die Pressesprache hat hier seit langem eine prägende Bedeutung. Sie steht auch im Fokus normativer und regulierender Bemühungen in einigen romanischen Ländern, die sich hinsichtlich des Umgangs mit fremdsprachlichen Einflüssen allerdings deutlich unterscheiden. Während es in Italien aufgrund historischer Erfahrungen eher ein deskriptiv-beobachtendes Verhalten gegenüber den aktuellen Entwicklungen gibt, ist für Frankreich seit mehreren Jahrzehnten ein institutionelles Bemühen kennzeichnend, einerseits den Einfluss von Anglizismen generell zu begrenzen und andererseits taugliche muttersprachliche Äquivalente zu bilden und zu verbreiten. Gelang dies frühzeitig und erfüllte das Alternativwort die Bedürfnisse der Nutzer nach Kürze und Transparenz, wurde das französische Äquivalent erfolgreich in die Sprache integriert, wie die Beispiele ordinateur, puce, logiciel, baladeur zeigen. Formen wie mél (neben courriel), mercatique oder webmestre konnten die jeweiligen englischen Äquivalente im französischen Sprachraum trotz lexikographischer Präsenz nicht verdrängen. In den spanischsprachigen Ländern wird von den Akademien eine gemäßigt puristische Haltung vertreten: Für als überflüssig erachtete Lehnwörter (z.B. abstract, back-up, single, staff), aber auch für Neologismen, für die spanische Äquivalente zur Verfügung stehen (z.B. iniciar seción oder conectarse statt hacer login) oder die nach morphosyntaktischen Mustern des Spanischen gebildet werden können (z.B. lunes triste statt Blue Monday oder ciberlunes statt Cyber Monday), wird der Gebrauch solcher Äquivalente empfohlen. Echte Bedürfnislehnwörter (z.B. biopic, surf) oder solche Lehnwörter, die in der Hispanophonie verbreitet sind (z.B. hardware, máster) werden dagegen auch in normative Werke wie das Wörterbuch der Real Academia Española aufgenommen.
Während heute in Frankreich vergleichsweise selten der Weg der Adaption von Anglizismen beschritten wird, ist dies z.B. in Italien und Spanien, eingeschlossen hybrider Bildungen und calques, ein häufiges Phänomen, das zu Formen wie it. pigiama party, calcio mercato, cica crema, eurozona oder span. bicisharing, criptomoneda, ludificación führt. Besonderes Interesse finden in puristisch oder normativ orientierten Kreisen in den einzelnen Ländern morphologische und syntaktische Veränderungen. Sie zeigen sich zum Beispiel an einer Varianz in Phonie oder Graphie (frz. top model/modèle, blog/blogue, it. sneaker/snicker, shock/choc, eskere/esketit/lesghere ‚let’s get it‘, span. whatsappear/ wasapear/guasapear, googlear/guglear), in Schwankungen der Genus- oder Numerusmarkierung (vgl. it. il/la selfie, i metadati/metadata, span. el/la internet, bitcoins/bitcoines). Unter kritischer Beobachtung stehen aufgrund ihrer typologischen Relevanz auch aus romanischer Sicht strukturell innovative Formen wie frz. weekend séminaires, fitness programmes, fan(-)zone, span. fanficción, turoperador oder z.B. die Übernahme syntaktischer Strukturen aus dem Englischen wie span. no solo…, pero (también).

Folgende Themen bieten sich als Grundlage für Beiträge zum Kolloquium an:

- die Rolle der ein- und zweisprachigen Lexikographie und einzelner Wörterbücher im Umgang mit Neologismen
- die Verantwortung und Bedeutung der Übersetzer
- neue Ansätze und Methoden der Sprachlenkung in den einzelnen romanischen Ländern
- der Modellcharakter bestimmter Textsorten und Diskurstypen für den Umgang mit sprachlichen Innovationen
- die Rolle der Fremdsprachendidaktik in der Bewertung und Vermittlung neuer sprachlicher Tendenzen
- aktuelle Entwicklungen in Gruppensprachen sowie Wechselwirkungen zwischen Gruppensprachen und Gemeinsprache

Das Kolloquium bietet die Möglichkeit, sich ausgehend von den genannten Themenbereichen über Prozesse der sprachlichen Entwicklung, aber auch der normativen, deskriptiven und sprachpolitischen Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen in den Sprachen auszutauschen. Es sind Beiträge zu allen romanischen Sprachen und Varietäten sowie zu kontrastiven Aspekten willkommen, allen voran aktuelle deskriptiv-empirische Untersuchungen.

Bibliographie (in Auswahl)
Azorín Fernández, Dolores (2017), « L’attitude à l’égard des néologismes dans la trajectoire du dictionnaire académique. Un conflit entre la norme et l’usage », in : Cahiers de Lexicologie 110.1, 95-113.
Gesner, Edward (2000), « Étiemble et les anglicismes morphosyntaxiques : faut-il craindre le pire ? », in : Dalhousie French Studies 52, 188-196.
Gruppo Incipit (2021), « Un ‹ booster › per accelerare l’abbandono dell’italiano ? », Comunicato n. 18, 08 novembre 2021, in: http://www.accademiadellacrusca.it/it/attivita/gruppo-incipit.
Guerrero Ramos, Gloria (2015), « Uso de neologismos recogidos y propagados por la prensa », in : Neologica. Revue internationale de néologie 9, 223-249.
MartÍ Solano, Ramon (2018), « Le brunch et son réseau d’anglicismes : étude sur un corpus spécifique », in : Revista de Lenguas para Fines especificos 24.1, 123-141.
Planchon, Cécile (2018), « Anglicismes dans la presse écrite : le bilinguisme du milieu peut-il expliquer l’anglicisation ? », in : Journal of french language studies 28.1, 43-66.
Porquier, Rémy (2010), « Néologie et dérivation : dé-, une préfixation prolifique dans le français actuel », in : Abecassis, M./Ledegen, G. (Hgg.), Les voix des français, Vol. 2, Oxford : Peter Lang, 235-251.
Rodríguez González, Felix (2013), « Pseudoanglicismos en español actual. Revisión crítica y tratamiento lexicográfico », in : Revista española de lingüística 43, 123-169.
Sarmiento, Ramón/Vilches, Fernando (eds.) (2007), Neologismos y sociedad del conocimiento. Funciones de la lengua en la era de la globalización, Madrid, Fundación Telefónica/ Barcelona, Ariel.
Variano, Angelo (2018), « Spigolature di anglicismi: a proposito di leggings e altri (recenti) forestierismi », in : Zeitschrift für romanische Philologie 134.2, 568-579.

Veranstalterinnen:

Prof. Dr. Georgia Veldre-Gerner und Prof. Dr. Christina Ossenkop
WWU Münster
Romanisches Seminar
Bispinghof 3, Haus A
48143 Münster
E-Mail: veldre@uni-muenster.de, christina.ossenkop@uni-muenster.de

Anmeldung: bis zum 31.01.2023 mit Vortragstitel und einer kurzen Zusammenfassung per E-Mail an eine der Veranstalterinnen

Fragen zu Organisation und Unterbringungsmöglichkeiten:
Christina Schmitt (lingrom@uni-muenster.de)

Beitrag von: Christina Ossenkop

Redaktion: Robert Hesselbach