Es gibt vermutlich nicht viele so emblematische Bilder für den Umbruch nach 1990 in Halle wie das Ex-Stasi-Gebäude am Gimritzer Damm. Kaum war es überstürzt vom „Schild und Schwert der Partei“ geräumt worden (das sich über drei Etagen erstreckende abmontierte Metall-Wappen war als Schatten noch Jahre später auf den Mauern zu erkennen), da zogen in die unteren Etagen das Finanzamt, in die oberen die Martin-Luther-Universität mit ihren Neuphilologien ein. Im obersten Stock befand sich fortan die Romanistik, die wie die Anglistik ein Stockwerk darunter in kürzester Zeit von einem streng zulassungsreglementierten zu einem studentischen Massenfach geworden war. Heinz Thoma, der erste nach den neuen Berufungsregeln ernannte Professor der Romanistik, hatte dort ab 1993 sein Dienstzimmer: einerseits mit spektakulärem Blick über die ganze Stadt, andererseits, versteckt in einem Wandschrank, mit den herausgerissenen Kabeln jener Abhöranlagen, mit denen der Geheimdienst zuvor noch seine eigenen Mitglieder im Gebäude überwacht hatte. Kein sehr attraktives Ambiente, aber immerhin relativ viel Platz: Von hier aus versuchte Thoma, zusammen mit uns in kurzer Folge nachberufenen Kolleginnen und Kollegen, eine moderne Romanistik unter gegenüber der Zeit zuvor völlig veränderten Rahmenbedingungen zu profilieren. Das konnte nicht ohne Konflikte abgehen, nicht einmal so sehr mit den Kolleginnen und Kollegen aus der gerade untergegangenen DDR (das natürlich auch), als vielmehr mit einer sich selbst erst findenden Verwaltung, aber es gelang. Dass die Hallesche Romanistik heute sehr gut dasteht, ist auch ein Verdienst des geglückten Anfangs. Das war bekanntlich nicht überall so.

Die Zusammenlegung der beiden deutschen Staaten hatte Thoma von Anfang an kritisch begleitet. „Rasante Zeiten“ nannte er sein, in gewollt sehr kleiner Auflage und in einem Hamburger Politik-, nicht in einem Wissenschaftsverlag erschienenes Tagebuch, das ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig den veränderten Wissenschaftsprozess und vor allem auch dessen westdeutsche Protagonisten von 1990 bis 1993 begleitete (mehr als einer der erwähnten Kollegen soll ihn danach nicht mehr gegrüßt haben). Aufzeichnungen nach der Berufung nach Halle hat er dann nicht mehr veröffentlicht.

Dieses Interesse für die politischen Rahmenbedingungen von Wissenschaft und für das jeweilige Verhalten des Individuums in ihnen war insgesamt sicher eines der am stärksten prägenden Motive seiner Forschung, gerade auch in der historischen Perspektive. Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum hieß seine Dissertation von 1976 bei Erich Köhler, also die Freilegung von Strukturen der Rezeption von Aufklärung unter den ganz anderen sozialen Bedingungen des französischen 19. Jahrhunderts nach der Revolution: der monarchistischen Restauration unter den beiden jüngeren Brüdern des geköpften Ludwig XVI., der Juli-Monarchie des „Enrichissez-vous“, der Revolution von 1848 und dem Kaiserreich unter Napoleon III. Henning Krauß, ein Jahr jünger als Thoma und ebenfalls Schüler von Erich Köhler, fand dreißig Jahre später zu Recht, die Studie, „damals ideologiekritisch genannt“, sei „aus heutiger Sicht ein Beitrag zur Kulturwissenschaft“. Auf die Zeit zwischen 1815, dem Ende der Napoleonischen Ära, und 1851, dem Staatsstreich Napoleons III – also nochmals die Restauration, die Julimonarchie und die Revolution von 1848 – kam Thoma auch in seiner Habilitationsschrift (Wuppertal 1984) zurück. Sie hieß Die öffentliche Muse, verband also gerade das Moment der kritischen Öffentlichkeit und der Zeitgenossenschaft mit der Literaturproduktion, und zwar anhand der ‚geringeren‘ Gattungen: der panegyrischen Gelegenheitslyrik (die Krönung von 1825), der Verssatire und der Frühgeschichte des politischen Chansons in der Nachfolge von Béranger, Gattungen also, die von vorneherein auf eine öffentliche Wirkung und nicht auf das stille Lesen im Zimmer hin angelegt waren. Ein noch immer vorzüglicher, merkwürdigerweise in der Forschung nur wenig rezipierter Sammelband zur Lyrik des gesamten 19. Jahrhunderts im Rahmen des von Krauß initiierten Großprojektes „Interpretation Französische Literatur“ schloss Thomas Beschäftigung mit dem Gegenstand 2009 weitgehend ab. Eine lange Zeit geplante Studie zur italienischenLyrik der Gegenwart kam am Ende nicht zustande, aber ein ganzes Corpus von systematisch gesammelten Bänden und Bändchen dazu kündet im Romanistik-Bestand der Universitätsbibliothek noch davon.

In Halle hatte sich Thoma schnell jener Epoche der Literatur und Kultur zugewandt, die dann sein Hauptthema für die folgenden dreißig Jahre werden sollte, der französischen Aufklärung. Auch hier galt es wieder, einen Neuanfang zu organisieren. Das Aufklärungszentrum der Universität, als letztes deutsch-deutsches Kooperationsprojekt noch vor der ‚Wende‘ begonnen, wankte unter dem Druck der Umstände bedenklich; Thoma wurde der neue Direktor nach der Pensionierung von Ulrich Ricken und musste sich in der neuen Funktion zwangsläufig um alles kümmern – von den Verhandlungen mit der ULB zur Zentrierung der umfangreichen Bestände des 18. Jahrhunderts im neuen Zentrum, wo sie prominent aufgestellt werden sollten, bis hin zur Auswahl der Lampen im Lesesaal. Gerne erzählte er, wie er bei seinem ersten Besuch in der ehemaligen Schule, deren Umbau die Volkswagenstiftung bezahlte, im Dachgeschoss – dem heutigen Lesesaal – Hunderte toter Tauben vorfand. Zugleich musste ein – ebenfalls nicht immer einfacher – Modus Vivendi mit den Franckeschen Stiftungen gefunden werden, auf deren Gelände das Aufklärungszentrum liegt. Allen, die dabei waren, wird bis heute unvergessen sein, wie er Paul Raabe, dem Stiftungsdirektor, zu dessen 70. Geburtstag in dem nach dem pietistischen Liederdichter Gottlieb Freylinghausen benannten Festsaal der Stiftungen einen großformatigen Kupferstich mit dem Porträt Voltaires überreichte.

Wichtig war ihm nicht zuletzt die durch die Benennung zum Ausdruck kommende Programmatik. Am Ende langer Diskussionen setzte sich sein Vorschlag „Interdisziplinäres (!) Zentrum für die Erforschung der Europäischen (!) Aufklärung“, kurz IZEA, durch. Die Bewilligung eines zusammen mit Jörn Garber konzipierten mehrjährigen Förderprojektes unter dem Generalthema „Selbstaufklärung der Aufklärung“ durch die DFG konsolidierte das Zentrum sowohl inneruniversitär als auch in der Außenwirkung. Mit einer ganzen Forschergruppe fragte er hier nun nicht mehr nach der Rezeption, sondern nach dem Selbstverständnis der Epoche; er selbst befasste sich in seinem Teilprojekt mit Diderot, der ihm von allen Aufklärern am nächsten stand. Das erst mit Verzögerung im Januar 2015 erschienene Handbuch Europäische Aufklärung mit dem Untertitel Begriffe – Konzepte – Wirkung, das in etwa 50 Beiträgen wichtige Schlüsselthemen der Epoche beleuchtete, war ein spätes Ergebnis dieser Forschungsinitiative.

Heinz Thoma war ein Mann mit Ecken und Kanten; er ‚konnte‘ Diplomatie, wenn es nötig war, aber lieber war ihm die spielerische Provokation seines Gegenübers – mal sehen, wie der/die damit umging, ob er/sie zurückzuckte oder den Ball aufnahm und zurückgab. Wer das schaffte – unerschrockene ‚Untergebene‘ ebenso wie Kolleg:innen, in Gremiensitzungen wie im eher privaten Gespräch –, konnte seines Interesses und Respekts sicher sein, wenn erforderlich, auch seiner Loyalität oder diskreten Hilfestellung. In Halle hat er in der Romanistik und in der gesamten Universität wichtige Spuren hinterlassen, die noch längere Zeit nachwirken werden. Zuletzt hat er sich der deutschen Übersetzung des epochemachenden Werks zum Energiebegriff in der Spätaufklärung des Pariser Kollegen und Freundes Michel Delon gewidmet, das Ende Oktober erschienen ist. Kurz darauf, am 27. November 2022, ist Heinz Thoma 77-jährig in Halle gestorben. Wir werden seiner mit Respekt gedenken.

Thomas Bremer

Beitrag von: Thomas Bremer

Redaktion: Robert Hesselbach