Stadt: Passau

Frist: 2024-01-31

Beginn: 2024-09-24

Ende: 2024-09-27

URL: https://www.uni-passau.de/frankoromanistentag/sektionen

Unterwegs im Anthropozän. Geohistorische Skalierungen frankophoner Reiseliteratur

In der europäischen Literaturgeschichte sind Reisen und Berichte über sie eng mit der Frage der persönlichen Entwicklung verknüpft, angefangen von philosophischen Überlegungen zur Bewegung bei Aristoteles über die peregrinatio academica und die ars apodemica der Frühen Neuzeit, die Grand Tour in der Aufklärung, den Selbstfindungsreisen in der Romantik, den Entdeckungs- und Forschungsreisen – die neben der Acquisition von Wissen häufig auch die persönliche Entfaltung der Reisenden thematisiert – bis hin zum Massentourismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wurde die Natur in der Geschichte der Reiseliteratur in eine entsprechend asymmetrische, funktionale oder eher dynamische Position gebracht – als Wissensobjekt, als Experimentierfeld oder Projektionsfläche subjektiver Erfahrungen, sowie als konsumorientierte Ware – scheinen im Zuge der jüngsten Debatte um das Anthropozän neue Formen des Mensch-Natur-Verhältnisses literarisch ausgehandelt zu werden.

Die Kategorie des Anthropozäns wird einerseits als diagnostisch geochronologisches Konzept der naturwissenschaftlichen Skalierung des Erdzeitalters, in dem der Mensch zum größten Einflussfaktor für planetarische Veränderungen geworden ist, benutzt, andererseits aber auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften verwendet, um die epistemischen, anthropologischen und soziokulturellen Bedingungen der asymmetrischen Beziehung des Menschen zu Welt und Natur zu untersuchen. Mit dem Begriff und der Evidenz der globalen Umweltkrise geht ein verändertes Bewusstsein einher, das zunehmend auch die bestehenden (sozio-)kulturellen und materiellen Rahmenbedingungen unseres Mobilitätsverhaltens transformiert und Impulse für künstlerische und literarische Produktionen setzt. In diesem Sinne konzentriert sich die geplante Sektion auf den Versuch einer „[g]eohistorischen Skalierung“ der literarischen Gattung der Reiseliteratur (Dünne 2019). Im Hinblick auf das Unterwegssein im Anthropozän lassen sich einerseits kanonische Texte mithilfe innovativer methodischer und theoretischer Ansätze neu interpretieren, andererseits alternative Imaginationen der Reise beobachten. So entwirft etwa Édouard Glissant in La Terre magnétique (2007) eine subjektlose insulare Prosa für die globalisierte Welt, die nicht nur im kulturellen, sondern auch im ökokritischen Sinne gedeutet werden kann. Reiseliteratur übernimmt hier eine „seismographische Funktion“ (Ette 2020: 646) für transregionale Dynamiken, interkulturelle Verflechtungen und Globalisierungsprozesse und bezeugt in dieser Hinsicht den zu verzeichnenden Trend der „délocalisation“ (Mecke/Donnarieix 2021) in der frankophonen Gegenwartsliteratur.

In der frankophonen Reiseliteratur lassen sich verschiedene kulturgeschichtliche Entwicklungen, Praktiken und Wahrnehmungen von Mobilität verzeichnen – von den romantischen Kutschenreisenden über die modernen Zug- und Autofahrer:innen bis hin zu den zynischen postmodernen Flugzeugtourist:innen. In dieser Hinsicht bestehen wohl die bekanntesten Leistungen der Reiseliteratur einerseits in der geschichtlichen Dokumentation andererseits in der kulturellen Imagination diverser Transportsysteme, die den Reisehabitus und seine materiellen Bedingungen erfassen und prägen (Passalacqua 2009). Oder um mit Régis Debray zu sprechen: „Mettez Jacques le Fataliste dans un TGV ou Tristram Shandy dans un avion long-courrier: ça ne marche plus. Autre véhicule, autre style, autre esprit“ (Loehr 2015, 20). Analog zu Debray stellt die Sektion die Frage, welche Verkehrsmittel im Anthropozän gefeiert oder diabolisiert werden, wie Reise erzählt werden kann und welche Haltung die reisenden Subjekte – sofern es diese noch gibt – dabei einnehmen. Die Sektion möchte folgende Impulse für die Betrachtungen der Reisenarrative im Anthropozän setzen:

  • Gattungsgeschichtlich: Wie steht es um die vergangenen und gegenwärtigen Entwicklungen der literarischen Gattung der Reiseliteratur in Bezug auf das Anthropozän? Welche gattungsgeschichtlichen Kontinuitäten und Brüche der Reiseliteratur können ausgelotet werden? Lassen sich kulturelle Vergleiche, gattungsorientierte Unterscheidungen zu verwandten Formen oder Überschneidungen mit Genres wie der Ökopoetik oder der Climate Fiction anstellen?
  • Kulturgeschichtlich: Inwieweit ist Reiseliteratur Teil sozialer und kultureller Prozesse und wie trägt sie umgekehrt zu deren Gestaltung bei? Inwiefern sind alternative Reiseerzählungen im Anthropozän nicht nur als ästhetische, sondern auch als gesellschaftliche Kritik oder im Hinblick auf ethische Fragen zu verstehen? Inwieweit tragen diese Literaturen zur Produktion, Konsolidierung und Bewahrung bestimmter Formen der kulturellen und gesellschaftlichen Imagination der Reise und den mit ihnen verbundenen Transportmitteln bei?
  • Werkorientiert: Welche Reiseerzählungen sind im Anthropozän (noch) möglich? Welche Rolle nimmt dabei die Natur ein? Inwiefern lassen sich klassische Texte einer ökokritisch, neumaterialistisch oder kulturkritisch ausgerichteten Neulektüre unterziehen? Dazu kann auf komparatistische, intermediale und intersektionelle Ansätze zurückgegriffen werden.

Wir bitten um Vortragsvorschläge in dt. oder frz. Sprache mit einer Länge von höchstens 500 Wörtern (zzgl. Bibliographie) bis zum 31. Januar 2024 an die folgenden Adressen: [Niklas.Schmich@ur.de ; Melanie.Schneider@ur.de]
Für die Einreichungen bitten wir die beigefügte Vorlage (s. URL) zu verwenden. Über die Annahme der Beiträge wird bis zum 28. Februar 2024 informiert.

Bibliographie:

  • Dünne, Jörg. 2019. Kosmogramme: Geohistorische Skalierungen romanischer Literatur. Berlin: August Akademie.
  • Ette, Ottmar. 2020. ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen zur Reiseliteratur. Berlin/Boston: De Gruyter.
  • Mecke, Jochen/Donnarieix, Anne-Sophie (eds.). 2021. La délocalisation du roman: Esthétiques néo-exotiques et redéfinition des espaces contemporains. Berlin et. al.: Peter Lang.
  • Passalacqua, Arnaud. 2009. “La mémoire figée des objets mobilesˮ. In: Mathieu Flonneau/ Vincent Guigueno (eds.), De l’histoire des transports à l’histoire de la mobilité?. Rennes: Presses universitaires de Rennes, 303–314.
  • Loehr, Joël. 2015. “Au commencement était la route. Littérature romanesque et locomotionˮ. Poétique, 177/1, 19–41.

Beitrag von: Niklas Schmich

Redaktion: Robert Hesselbach