Zwischen Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung: Einflüsse literarischer Texte im aktuellen Französischunterricht

Herle-Christin Jessen (LMU München), Christian Grünnagel (Bochum), Felix Nickel-Holze (Bochum)

Literarische Texte schreiben sich sowohl in ihrem Gehalt als auch in ihrer formalästhetischen Gestaltung in Konventionen ein, brechen diese durch Innovationen auf und führen sie in immerwährender Prozessualität fort. Innerhalb dieser Dynamiken können sie über Jahrhunderte kulturell einflussreich sein oder schon nach kurzer Zeit an Einfluss verlieren. Sie können lange nach ihrer Entstehung und einem womöglich langen Vergessen wiederentdeckt werden, ihre Wirkkraft immer neu entfalten und dergestalt ästhetisch erfahren werden, dass die “Heranwachsenden als Subjekte ihres Lernens angesprochen und beansprucht werden” (Duncker 1999, 11). In der vorgeschlagenen transversalen Sektion sollen literarische Einflussphänomene im aktuellen Französischunterricht mit einem besonderen Blick auf ihr Spannungsfeld zwischen Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung identifiziert und diskutiert werden.

In der aktuellen Krise des fremdsprachlichen Literaturunterrichts (vgl. Blume 2015; Hertrampf 2018; Ißler 2019 und 2022) scheint die von den Kernlehrplänen der Bundesländer bereits geforderte (literatur-)wissenschaftliche Propädeutik des Französischunterrichts in der Oberstufe dabei mehr denn je ein Ziel zu sein, das in der literaturdidaktischen Debatte berücksichtigt werden sollte. Diese Sektion möchte deshalb einen Diskussionsraum zu einflussreichen Texten in der interdisziplinären Vernetzung von Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Fachdidaktik und Schulpraxis eröffnen. Zu erörtern ist, welche literarischen und kulturellen Einflüsse im heutigen Französischunterricht mit literarischen Werken und ggf. weiteren fiktionalen Entwürfen behandelt werden (sollten), wie sich die zur Diskussion stehenden Gegenstände zwischen tradierten Konventionen und aufbrechenden Innovationen – u.a. in Genre, Medialität, Gestaltungsmitteln, Sprachverwendung, Thematiken – positionieren, wie sie sich für den Schulunterricht begründen, methodisch-motivational mit Schülerinnen und Schülern erarbeiten und ästhetisch erfahren ließen.

In ihrer literaturwissenschaftlich-literaturdidaktischen Transversalität legt unsere Sektion einen besonderen Schwerpunkt auf Einflussprozesse innerhalb kulturell-ästhetischer Bildung und darin auf das “erkenntnistheoretische Moment” (Otto 1998, 56) inter- und transkulturellen sowie literarischen Lernens. Laut Bildungsstandards beinhaltet Text- und Medienkompetenz “das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses” (KMK 2012, 20). Die Kompetenz, Texte und Medien in ihrer Faktur zu erkennen, heißt also, sie als Ausdruck “konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter” künstlerischer Mittel reflektieren und reproduzieren zu lernen und damit ein Bewusstsein für die wechselseitigen Einflüsse von Kultur, Kunst und Gesellschaft sowohl zu erlangen als auch in der eigenen Kreativität zu praktizieren. Nicht nur bei der Ausbildung von Text- und Medienkompetenzen, sondern – eng mit ihnen verbunden (vgl. Decke-Cornill 1994) – auch von interkulturellen kommunikativen Kompetenzen fällt dem Begriff der Konvention innerhalb der Bildungsstandards eine zentrale Rolle zu: In ihrem unmittelbaren wie medial vermittelten kommunikativen Handeln greifen Schülerinnen und Schüler “auf ihr interkulturelles kommunikatives Wissen zurück und beachten kulturell geprägte Konventionen. Dabei sind sie in der Lage, eigene Vorstellungen und Erwartungen im Wechselspiel mit den an sie herangetragenen zu reflektieren und die eigene Position zum Ausdruck zu bringen” (KMK 2012, 19). Wie lernen aber Schülerinnen und Schüler konkret im Umgang mit literarischen Texten, “kulturell geprägte Konventionen” und damit Einflussmechanismen auf ihre Vorstellungs- und Erwartungswelt kritisch zu reflektieren und ggf. zu überwinden – “zugleich handlungsorientiert und ethisch-moralisch und logisch-theoretisch und ästhetisch-spielerisch” (Sievert-Staudte 1998, 27)? Wie verortet sich diese “Bildung als Selbstbildung des Subjekts” (ebd.) zwischen “Selbstbezug und Weltbezug” (Brandstätter 2012, 176) und dabei v.a. im Einflussraum von Konvention, Innovation und ästhetischer Erfahrung? Wie wird dieser Einflussraum durch Auswahlmechanismen literarischer Texte in nicht immer einsehbaren Kanonisierungsprozessen geprägt (vgl. Calderón Villarino/Jessen 2020 sowie Calderón Villarino/Grünnagel/Jessen/Nickel-Holze 2023)? Welcher Mehrwert kommt in der zu erlernenden Bewusstwerdung von Konventionen und Einflussdynamiken insbesondere der ästhetischen Verfasstheit von Texten und Medien zu, die eine eigene Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung auszulösen imstande sind? Und wie lassen sich in der Schulpraxis anwendbare literarästhetische Kompetenzen entwickeln und weiterentwickeln (u.a. ausgehend von Spinner 1998; Engel 2004; Kammler 2006; Spinner 2006; Lösener 2010; Hallet 2010; Surkamp 2012; Durczok 2016; Bruno 2020), wenn doch ihre Modellierung “theoretisch-konzeptionell ebenso wie empirisch” noch immer ein Forschungsdesiderat darstellt (Surkamp 2012, 86)? Es wird hierbei auch darum gehen, zentrale Forschungspositionen zur ästhetischen Bildung bzw. ästhetischen Erfahrung (vgl. Dewey 1980; Goodman 1998; Küpper/Menke 2003; Brandstätter 2013, Deines/Liptow/Seel 2013; Bertram 2014; Welsch 2017) in die transversale Diskussion zu integrieren.

Darüber hinaus harren literarisch-kulturelle Mythen, Topoi, Skripte, Motive und Stereotype sowie das Potenzial einer ästhetischen Erfahrung an ihnen im Zeitalter einer häufig unreflektierten medialen Konsumhaltung, das den Lernenden in ihrer “Zeit der flüchtigen Wahrnehmungen” (Spinner 1998, 47) dringender denn je “Fiktionalitätskompetenz” abverlangt (Rössler 2010), einer gebotenen Didaktisierung, die sich auf der Höhe der aktuellen Forschung in den Bezugswissenschaften bewegt, wobei auf Konzepte der inter- bzw. transkulturellen (vgl. Schumann 2008; Reimann 2017) und intertextuellen (vgl. Hallet 2002) Literaturdidaktik zurückgegriffen werden kann. Fachdidaktik sowie Literatur- und Kulturwissenschaft können und sollten – so unsere Überzeugung – über die jeweils andere Perspektivierung ihrer teils identischen, teils (noch) divergenten Gegenstände in einen konstruktiven Dialog eintreten und auf diesem Wege den fremdsprachlichen Literaturunterricht und seine Aufgabenformate im kompetenzorientierten Schulunterricht unserer Gegenwart weiterentwickeln.

Unsere gemeinsame Sektionsarbeit wollen wir auf vier Felder konzentrieren:

Lektüren im aktuellen Französischunterricht

Welche bekannten und unbekannten, welche einflussstarken und welche einflussschwachen fiktionalen Werke werden aus welchen Gründen im aktuellen
Französischunterricht eingesetzt – und wie lässt sich ihr ‚Einfluss‘ messen oder zumindest plausibilieren und literaturdidaktisch erfassen?
Wie können Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Fachdidaktik und Schulpraxis mit Blick auf auszuwählende Schullektüren und passende Aufgabenformate zusammenarbeiten?

Konvention, Kanonisierung, Innovation

Wie entsteht und bemisst sich die Einflusskraft fiktionaler Werke im Spannungsfeld von Konvention und Innovation?
Warum entfalten beispielsweise manche Texte eher außerhalb der Schule ihren kulturellen Einfluss, während andere Texte sich in einem Schulkontext erschöpfen, ohne merklich in die Gesellschaft zu wirken oder von der Literaturwissenschaft beachtet zu werden?
Welche Rolle spielen dabei Kanonisierungsprozesse durch Verlagsprogramme, Bildungsstandards und Lehrpläne, Abiturthemen, soziokulturelle Rückwirkungen, etc.?

Kompetenzerwerb zwischen Inter- / Transkulturalität und Intertextualität

Warum und über welche Mechanismen entfalten literarische Texte und andere fiktionale Entwürfe dann besonderen Einfluss, wenn sie nicht nur thematisch, sondern gerade in ihrer ästhetischen Verfasstheit rezipiert werden und wie kann diese textuelle bzw. mediale Bezugnahme im Unterricht fruchtbar gemacht werden?
Wie kann die Bewusstmachung der intertextuellen Dimension literarischer Werke auch der Förderung interkultureller kommunikativer Kompetenzen sowie der Text- und Medienkompetenzen dienen?

Ästhetische Erfahrung

Auf welche Weise können literarische Texte, Filme, Graphic Novels, etc. besonders dann nachhaltig Einfluss entfalten, wenn die Schülerinnen und Schüler an ihnen eine ästhetische Erfahrung machen können und diese auch zu reflektieren lernen?
Welchen Raum hat ästhetische Bildung/Erfahrung im aktuellen Französischunterricht und welchen sollte sie in Zukunft einnehmen?

Bibliographie und weitere Informationen zur Tagung finden Sie hier: https://www.uni-passau.de/frankoromanistiktag/sektionen/transversale-sektionen

Wir freuen uns über Ihre Beitragsvorschläge! Bitte senden Sie Ihren Abstract bis zum 31.01.2024 an h.jessen@lmu.de, christian.gruennagel@ruhr-uni-bochum.de und felix.nickel@ruhr-uni-bochum.de

Beitrag von: Elisabeth Leuthardt

Redaktion: Robert Hesselbach