Nachruf auf Prof. em. Dr. Rainer Warning (10. April 1936 – 1. Januar 2024)

Rainer Warning wurde 1936 in Osnabrück geboren. Nach dem Studium in Münster, Besanҫon und Gießen (neben der Romanistik auch Anglistik, Geschichte und Philosophie) war er wissenschaftlicher Assistent in Gießen, in Würzburg und dann in Konstanz. Dort folgte auf die in Gießen von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser betreute Dissertation die Habilitation (wiederum bei Jauß), wonach er im Jahr 1972 an die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität berufen wurde. Dort bekleidete Rainer Warning einen Lehrstuhl für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt auf der französischen Literatur, der in den späteren Jahren auch die Allgemeine Literaturwissenschaft umfasste, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 (einen Ruf auf die Jauß-Nachfolge an der Universität Konstanz hatte er 1986 nicht angenommen). Seit 1995 war er Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Durch die herausragende Qualität seiner Forschung und Lehre hat er nicht nur die Münchener Romanistik, sondern auch weit darüber hinaus die Entwicklung des Fachs nachhaltig geprägt. Am 1. Januar 2024 ist Rainer Warning im Alter von 87 Jahren verstorben.

Durch seine wissenschaftlichen Lehrer Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser wurde Rainer Warning insofern entscheidend geprägt, als er die von ihnen betriebene Überwindung einer bis dahin überwiegend historischen und gesellschaftswissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft übernahm und weiterführte. Weiterhin war es ihm stets ein Anliegen, die literaturhistorisch festgeschriebenen Deutungen von Epochen, Autoren und Werken zu hinterfragen und darüber hinaus reichende Dimensionen freizulegen. Das zeigte sich bereits in seiner Dissertation mit dem Titel Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und Jacques le Fataliste (München 1965), in der er sich mit Texten beschäftigte, die es ihm erlaubten, im Gegensatz zu einsinnigen Fortschrittsnarrativen den vielseitigen Charakter der Aufklärung zu betonen. Auch in der Folge hat Rainer Warning die literaturwissenschaftlichen Anliegen häufig im Dialog mit seinen inzwischen den Kern der ‚Konstanzer Schule‘ bildenden Lehrern entwickelt, sowohl in der Habilitationsschrift (Funktion und Struktur – Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels , München 1974), die durch Jaußʼ Forschungen zur den romanischen Literaturen des Mittelalters motiviert war, als auch mit dem Sammelband zur Rezeptionsästhetik (Rezeptionsästhetik – Theorie und Praxis, München 1975), deren theoretisches Fundament er in der einleitenden Abhandlung im Sinne einer literaturwissenschaftlichen Pragmatik erweiterte und modernisierte. Hinzu kam die regelmäßige Teilnahme an den Tagungen der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik, zu deren Gründungmitgliedern er zählte und die er immer wieder mit wichtigen Beiträgen bereicherte. Zudem war Rainer Warning zusammen mit anderen Repräsentanten des Konstanzer Schülerkreises einer der Initiatoren des Romanistischen Kolloquiums, dem das Fach wichtige Anstöße verdankt.

Zugleich zeichnete sich aber auch schon früh Rainer Warnings eigene Profilbildung ab. Es erscheint wegweisend, wenn er in seiner Einleitung zu Rezeptionsästhetik mit Bezugnahme auf Wolfgang Iser hervorhebt, dass fiktionale Texte vor allem auf das von den geltenden Sinnsystemen Ausgegrenzte, Negierte und für sie möglicherweise Bedrohliche reagieren. Diese Orientierung prägt bereits die Habilitationsschrift zum geistlichen Spiel des Mittelalters, in der er den auf den religiösen Inhalt fokussierten Deutungen die Ambivalenz der körperlichen Drastik von Jesu Leiden sowie auch der parodistischen und komischen Elemente, wie sie sich etwa in den Teufelsauftritten oder auch in den Krämerszenen der Osterspiele finden, entgegensetzt. Damit sollte gezeigt werden, wie der Rahmen der biblisch begründeten Handlungsstruktur überschritten und nicht nur zur Belehrung, sondern zu konträren Zwecken funktionalisiert wird, nämlich zur Entlastung des Publikums von den Zumutungen christlicher Disziplinierung. Die Theatralik wird somit in Widerspruch zu den Annahmen der Dogmatik gesetzt. Fortgeführt wurden die Überlegungen zu genuin ästhetischen, hier im Bühnenspiel angelegten Wirkungsdimensionen der Literatur in Rainer Warnings Beiträgen zur Komödientheorie („Komik und Komödie als Positivierung von Negativität [am Beispiel von Molière und Marivaux]“, 1975; „Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie“, 1976), in denen er der – etwa von Bergson – behaupteten sozialen Korrekturfunktion die Widersinnigkeit eines die zensierten Verhaltensweisen geradezu feiernden Komischen gegenüberstellte. Auch hierbei wird theatralisch orientierten spielerischen Episoden, die im Kontext der Haupthandlung beziehungsweise ‚anderweitigen Handlung‘, in der sich die gesellschaftliche Vernunft auf Kosten der komischen Widersacher durchsetzt, eigentlich redundant erscheinen, eine zentrale Rolle zugewiesen.

Zum Fundament von Rainer Warnings theoretischer Ausrichtung wurde – vor allem nach seiner Berufung auf den Münchener Lehrstuhl – die intensive Beschäftigung mit dem literaturwissenschaftlichen Strukturalismus und dann mit zentralen Ansätzen des Poststrukturalismus. Hierbei waren die pragmatisch orientierte Linguistik, der französische Strukturalismus sowie Jurij Lotmans strukturalistische Kulturtheorie wichtige Ausgangspunkte. Hinzu kamen dann als weitere Theoriekomponenten die Schriften Foucaults und die Beiträge des Dekonstruktivismus. Daneben erhielten anthropologisch orientierte Studien zum Imaginären mit einem besonderen Schwerpunkt auf Castoriadis einen zunehmend wegweisenden Charakter, da sie Warnings Interesse am Alteritätscharakter der Fiktion besonders entsprachen. In seinen Publikationen bildete dieses Theorieangebot – häufig im Zusammenspiel mit Texten der früheren geistesgeschichtlichen Tradition, die Rainer Warning immer mit im Blick hatte, – die Basis einer intensiven Reflexion über literaturwissenschaftliche Theoriebildung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Textinterpretation. Besonders deutlich kamen diese Voraussetzungen in seinen Studien zum französischen realistischen Roman (Die Phantasie der ‚Realisten‘, München 1999) zum Tragen, welche die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesem Textcorpus darstellen. Der Titel ist bereits programmatisch, da hier als Alternative der gängigen Deutungen, welche die Romane von Stendhal, Balzac, Flaubert und Zola als Gipfelpunkte einer sozialhistorischen Mimesis begreifen, die realitätsüberschreitenden Tendenzen der literarischen Phantasie in den Mittelpunkt gerückt werden. In den zuletzt entstandenen Teilen des Buches, welche die Ergebnisse eindrucksvoll resümieren, schreibt er der Literatur eine grundsätzlich konter-diskursive Funktion zu. Literarische Texte sind keine Nachahmungen bestehender Weltbilder und Diskurse, sondern eine spielerische Mimikry, die ihre Gegenstände performativ erzeugt und dabei einem Imaginären Raum verschafft, das im Sinne von Castoriadis als eine vom Phantasma des sich entziehenden Ursprungs getriebene, ständig neue Bilder und Gestalten erzeugende Dynamik verstanden wird. Bei Stendhal und Flaubert zeigt sich das in den romantisierenden Selbstbildern der Hauptfiguren, mit denen sie sich ihrer sozialen Bedingtheit entziehen, bei Balzac und Zola in der Unterwanderung des positivistischen Anspruchs der sozialen Mimesis durch vitalistische Vorstellungen eines triebgesteuerten und todverfallenen Lebens. So bietet das Buch einen rundum eigenständigen und in vielfacher Hinsicht neuartigen Blick auf die kanonischen Romane des französischen Realismus.

Auf die Beschäftigung mit dem Realismus folgte die wiederum Jahrzehnte umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk Marcel Prousts. Zusammen mit dem komparatistisch angelegten Band Heterotopien – Räume ästhetischer Erfahrung (München 2009) bilden bereits die Proust-Studien (München 2000) sowie dann die Monographie Marcel Proust (Paderborn 2016) eine neue Stufe in Rainer Warnings ständig weiter entwickelter Reflexion über das in der ästhetischen Erfahrung aufscheinende Andere und stellen ein in vieler Hinsicht eindrucksvolles Resümee seines Werks dar. Dabei treten zu Castoriadis’ Konzept des Imaginären nun der von Foucault geprägte Begriff der Heterotopie und Gilles Deleuzeʼ Vorstellungen von einem Begehren, das sich in einer differentiellen Repetition ständig neuer Repräsentationen manifestiert, hinzu. Als heterotop kennzeichnet Rainer Warning zunächst ganz im Sinne Foucaults Orte und Räume am Rande oder jenseits der Ränder der gesellschaftlichen Normalität, die er als emblematische Schauplätze für die literarische Inszenierung des Imaginären begreift. Dazu zählen Friedhöfe (u.a. bei Zola), Brücken (in einem Prosagedicht von Réda), das ins Meer ragende Vorgebirge (z.B. in Rimbauds Promontoire) und das Sanatorium (etwa in Thomas Manns Zauberberg). Darüber hinaus kann aber jeder sozial konfigurierte Raum – hier wird auf Michail Bachtins Begriff des Chronotopos Bezug genommen – in dem Maße einen heterotopen Charakter annehmen, wie er sich imaginären Besetzungen und damit der Inszenierung des Wiederholungsspiels des Begehrens anbietet. Auf dieser Basis präsentiert Rainer Warning eine höchst eindrucksvolle Lektüre der Recherche. Dabei stellt er der Rahmenerzählung, welche die gelingende Konstitution einer idealisierten künstlerischen Identität euphorisch feiert, eine Serie ‚erotischer Heterotopien‘ gegenüber, in der die Phantasmen sexueller Transgression sich mit ständig neuen Bildern einer traumatischen Verlustangst verbinden. In ihrem Mittelpunkt steht Albertine, die auf diese Weise zur Allegorie einer Zeiterfahrung wird, die nicht mittels der Erinnerung stillgestellt werden kann, sondern sich in einer rastlosen, schmerzlichen Neugier unaufhaltsam entfaltet. Zugleich will Rainer Warning darin und somit in Prousts Roman ein großes Manifest der einer solchen Neugier verschriebenen modernen Ästhetik sehen. Wie er im Vorwort des zweiten Proust-Buchs zu verstehen gibt, ist damit in gewisser Weise auch die eigene zu keinem Ende kommende wissenschaftliche Neugier gemeint. Mit seinen letzten Arbeiten hat er ihr ein imposantes Denkmal gesetzt.

Für alle Komponenten von Rainer Warnings literaturwissenschaftlichem Werk, das hier nur exemplarisch gewürdigt werden kann, ist es merkmalhaft, dass die sich auf hohem Abstraktionsniveau bewegende theoretische Reflexion sehr genau mit konkreten, detailbewussten Textanalysen verbunden wird. Nicht zuletzt aus dieser Textzugewandtheit erklärt sich auch Warnings Interesse für die Lyrik, die sich in vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reichenden Studien niederschlug und sich natürlich sehr gut in das Konzept einer konter-diskursiven Literatur einfügen. Zusammengefasst finden sie sich in dem Sammelband Lektüren romanischer Lyrik – Von den Trobadors zum Surrealismus (Freiburg i.Br. 1997), wo er seine Kompetenzen in der hohen Schule der Textinterpretation immer wieder unter Beweis stellt. Rainer Warnings Vielseitigkeit zeigt sich auch in seinem Interesse für die Vergleichende Literaturwissenschaft, das er bereits in seiner Dissertation zu Sterne und Diderot an den Tag legte und das dann später die eingehende Beschäftigung u.a. mit Shakespeare, Fontane, Rilke und Thomas Mann motivierte. Natürlich sind Romanisten immer schon Komparatisten gewesen, und so hat Rainer Warning trotz seiner Konzentration auf die französische Literatur immer wieder Ausflüge in die benachbarten romanischen Sprachen unternommen, so etwa zu Dante, Petrarca und Quevedo. Insgesamt hat Rainer Warning somit ein sehr reichhaltiges wissenschaftliches Werk hinterlassen, in dem er die Besonderheit und die Legitimität der Literaturwissenschaft auf souveräne Weise darstellt und das somit auch für künftige Generationen von Romanisten und überhaupt von Geisteswissenschaftlern nicht nur vielfältige Anregungen enthält, sondern in vieler Hinsicht wegweisenden Charakter besitzt.

Es wäre einseitig, die Bedeutung der wissenschaftlichen Persönlichkeit von Rainer Warning allein in seinen Publikationen zu suchen. Denn daneben und vor allem wirkte er als glänzender akademischer Lehrer mit charismatischer Ausstrahlung, der keiner hochschuldidaktischen Hilfestellungen bedurfte, um eine herausragende Form der wissenschaftlichen Lehre zu entwickeln. Dabei spielte sein Interesse am Strukturalismus eine maßgebliche Rolle, da er daraus eine Methodik der Textanalyse gewann, die auch für die Studierenden zugänglich war und sie zu einer eigenständigen Beschäftigung mit den Texten ermutigte und befähigte. Seine Seminare gewannen daher ihren besonderen Reiz aus der Möglichkeit, auf einer soliden Basis der Textanalyse anspruchsvollen Fragen sowohl der Textinterpretation als auch der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung nachzugehen. Das glanzvolle Kernstück von Rainer Warnings akademischer Lehre waren allerdings die Vorlesungen. In ihnen gelang es ihm meisterhaft, literaturgeschichtliches Überblickswissen mit innovativen Thesen und vor allem mit der Praxis einer äußerst genauen Textanalyse zu verbinden. Dabei verstand er es, seine Ausführungen in einer Weise zu gliedern und begrifflich zu präzisieren, dass Studierende aller Niveaus in seinen Bann geschlagen wurden. Seine Vorlesungen fanden häufig ein Publikum von 300 bis 500 Studierenden nicht nur der Romanistik, sondern auch von Interessenten aus anderen Fächern. Es liegt auf der Hand, dass Rainer Warnings Wirken als akademischer Lehrer sich auch darin niederschlug, dass er eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern ausbildete, die er über das Staats- oder Magisterexamen hinaus zu einer Promotion und möglicherweise auch Habilitation führte. Es wurden daher zahlreiche Qualifikationsschriften publiziert, die seine wissenschaftliche Prägekraft bezeugen, und zudem war das Ambiente des Lehrstuhls Warning der Ausgangspunkt zahlreicher erfolgreicher akademischer Karrieren, auch über das Fach hinaus. Rainer Warnings Lehre trug und trägt an vielen deutschsprachigen Universitäten ihre Früchte. Nicht zuletzt gilt dies für die Entwicklung des literaturwissenschaftlichen Felds der deutschsprachigen Hispanistik, da viele Schülerinnen und Schüler aufgrund der Struktur des Münchener Instituts die spanischsprachige Literatur als zweiten Schwerpunkt wählten. Die deutschsprachige Romanistik und viele ihrer augenblicklichen Vertreterinnen und Vertreter sind Rainer Warning zu großem Dank verpflichtet, und das gilt in besonderem Maße für die beiden der ersten Schülergeneration angehörenden Unterzeichneten.

München, 2. Februar 2024
Wolfgang Matzat und Bernhard Teuber

Beitrag von: Lars Schneider

Redaktion: Lars Schneider