Stadt: Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Frist: 2024-04-21

Beginn: 2024-07-23

Ende: 2024-07-26

Dem Kulturraum Amazonien wurde in der deutschen Romanistik bisher wenig Beachtung zuteil. Die Forschungsrelevanz liegt jedoch auf der Hand: Sein Gebiet erstreckt sich über Brasilien und mehrere hispanoamerikanische Länder, in denen wiederum zahlreiche indigene Gemeinschaften leben. Angesichts ihrer essentiellen Bedeutung für die Zukunft von Klima und Artenschutz steht die Region ohnehin im Zentrum der Aufmerksamkeit, was sie auch zum Gegenstand von Theoriebildung hat werden lassen. Als Bildspendebereich für verschiedene literarische Ausdrucksformen dienen der tropische Regenwald, der Amazonas-Fluss sowie seine Bewohner bereits seit der frühen Kolonialzeit.

Wir begreifen Amazonien als einen ebenso transnationalen wie transkulturellen Kommunikationsraum, in dem Texte entstanden sind, die von Chroniken über nationale Gründungsfiktionen bis hin zu Formen identitärer und ökokritischer Selbstverständigung in Abgrenzung von neokolonialer Ausbeutung reichen. Im Rahmen der DRV-Sommerschule, die vom 23. bis 26. Juli 2024 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfindet, möchten wir uns aus diachroner Perspektive mit den Momenten der Begegnung, des Austauschs und des Widerstreits in der diskursiven Hervorbringung und narrativen Modellierung Amazoniens befassen.

Arbeitsgrundlage sollen insbesondere Reiseberichte, ethnologische Studien und fiktionale Texte sein. Fray Gaspar de Carvajals Relación del nuevo descubrimiento del famoso río grande (ca. 1542), Inglês de Souzas Contos amazônicos (1893), Jose Eustasio Riveras La vorágine (1924) und Claude Lévi-Strauss’ Tristes tropiques (1955) sind nur einige der Texte, die als Untersuchungsgegenstand infrage kommen. Wer kommuniziert hier (mit wem) und zu welchem weitergehenden Zweck? Welcher rhetorischen Mittel und Strategien bedienen sich die Sprechenden und welche Rolle spielen dabei naturraumspezifische Tropologien, Imaginarien sowie Erzähltraditionen? Mit welcher erzählerischen Funktion werden die politischen, klimatischen, geographischen und kulturellen Besonderheiten Amazoniens bei der Aneignung, Verhandlung und Rückforderung diskursiver Macht belegt? Welche Identifizierungs- und Alterisierungsprozesse ergeben sich hieraus und was bedeuten diese Dynamiken für ein transnationales und transkulturelles Amazonien – von der Frühen Neuzeit bis heute? Dies sind Fragen, die wir in Form von Einzelvorträgen, Workshops und Gesprächsrunden diskutieren und nach Möglichkeit beantworten wollen.

Die zahlreichen Texte über Amazonien geben den Dschungel nicht nur als polyphonen Raum zu erkennen, sondern auch als einen, der selbst zum Topos geworden ist. Häufig ist die Region Gegenstand eurozentrischer Beschreibungen. Verschiedene Codices von Literarizität fließen dabei zusammen und stilisieren Amazonien zum heilsamen Spiegel der westlichen Welt. Die Stimmen indigener Völker erhalten dank Autorinnen und Autoren wie Eliane Potiguara und Márcia Wayna Kambeba zunehmend Aufmerksamkeit. Dazu passt, dass rezente literarische Darstellungen, Filme und Medienberichte extraktivistische Logiken problematisieren und den Amazonas zum exemplarischen Gegenstand ökokritischer Theoriebildung machen. Man denke etwa an Rio acima (2016), den Debütroman des brasilianischen Anthropologen Pedro Cesarino. Doch geht die Fokussierung auf die Region in transnationalen und transkulturellen Diskursen weit über das klimatologisch bedingte Interesse am Schutz Amazoniens hinaus.

Die Romanistik scheint uns für die Erforschung der kulturellen, sprachlichen und geopoetischen Verflechtungen, die die Literatur über die Region prägen, in besonderem Maße geeignet. Freilich gilt es, die Grenzen dieser Disziplin angesichts der über 300 indigenen Sprachen, die in Amazonien gesprochen werden, zu bedenken und, wenn möglich, konzeptuell fruchtbar zu machen. Bislang steht ein systematischer und zugleich umfassender Zugriff auf die kulturellen Ausdrucksformen dieses Lebensraums aus. Wir wollen einen breit angelegten Diskurs über Amazonien initiieren und auf diese Weise einen Beitrag zur Weiterentwicklung der romanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft an ihren inneren und äußeren Schwellen leisten.

Die Sommerschule richtet sich an Romanistinnen und Romanisten, die sich in einer der drei gängigen Qualifikationsphasen (Master, Promotion, Postdoc/Habilitation) befinden und einen Arbeitsschwerpunkt in der französistischen, hispanistischen oder lusitanistischen Literatur- bzw. Kulturwissenschaft haben. Auch Interessierte aus benachbarten Disziplinen wie der Anthropologie, Archäologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft sind willkommen. Anfragen und Bewerbungen mit einem Vortragsthema (250–400 Wörter, zzgl. biographischer Angaben) sind bis zum 21. April 2024 an Gesine Brede (g.brede@em.uni-frankfurt.de) und Timo Kehren (tikehren@uni-mainz.de) zu senden. Die Zu- und Absagen werden zwei Wochen nach Ende der Frist verschickt. Dank der finanziellen Unterstützung des Deutschen Romanistikverbands können die Kosten für Unterkunft und Mahlzeiten übernommen werden. Teilnahmegebühren fallen keine an.

Organisation:
Dr. des. Gesine Brede (Goethe-Universität Frankfurt)
Dr. Timo Kehren (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Workshopleitung:
Dr. des. Gesine Brede (Goethe-Universität Frankfurt)
Dr. Laura Gagliardi (Universität zu Köln)
Dr. Sergej Gordon (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)
Dr. Timo Kehren (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Keynotes:
Prof. Dr. Carla Jaimes Betancourt (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)
Prof. Dr. Stephan Leopold (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Prof. Dr. Romana Radlwimmer (Goethe-Universität Frankfurt)

Beitrag von: Timo Kehren

Redaktion: Julius Goldmann