CfP: 'Novellierungen' der Novellistik. Exemplarische Affekt-Erzählungen in der Romania, 1550-1650
Stadt: Paderborn
Frist: 2024-09-30
Beginn: 2024-12-05
Ende: 2024-12-06
Forschungskolloquium an der Universität Paderborn, 5. – 6. Dezember 2024
Die Romania des 16. und 17. Jahrhunderts prägen fundamentale Konflikte und Krisen – Reformation und Gegenreformation, die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich, der Prozess der Verhofung u.v.m. – sowie hiermit verbundene emotionshistorische Transformationen, deren bekannteste Ausprägungen in der veränderten Beichtpraxis nach dem Tridentinum und dem in Descartes’ Les Passions de l’âme unternommenen Versuch einer Kartographierung der Affekte bestehen. In diesen Kontext literaturhistorisch eingebettet sind jene grundlegenden frühneuzeitlichen Umbrüche, die in der Neuordnung des Gattungssystems und der Herausbildung neuer Gattungen wie romanzo und Roman sichtbar werden. Die Novelle erweist sich hier als diejenige Gattung, die bekanntlich bereits etymologisch prädestiniert dafür ist, das ‚Neue‘ in seiner Sinnoffenheit auszuloten und dem Spannungsverhältnis von Ordnung und Kontingenz mit den Mitteln des Erzählens zu begegnen. Dies lässt sich nicht nur inhaltlich anhand entsprechender Sujetfügungen, sondern auch strukturell und konzeptionell nachvollziehen. Strukturell dynamisiert die Novelle (Gattungs-)Ordnungen, insofern sie als Einzeltext, als Teil einer Sammlung mit und ohne Erzählrahmen oder in eingelagerter Form in narrativen Großgattungen in Erscheinung tritt. Konzeptionell wird erkennbar, wie die Novelle die zunehmend als kontingent und inkommensurabel erfahrene Wirklichkeit auch und gerade dahingehend bewältigt, dass sie die moraltheologisch und moralphilosophisch geprägten Erzähltraditionen des Exemplarischen auf Unterhaltung und variatio hin öffnet.
Cervantes’ 1613 publizierte Novelas ejemplares treten vor diesem Hintergrund historisch umso deutlicher hervor. Im Prólogo al lector versichert Cervantes, in jeder einzelnen seiner Novellen sei „algún ejemplo provechoso“ zu finden, und er erklärt dergestalt das titelgebende Adjektiv des Exemplarischen im Sinne eines besonderen moralischen Nutzens seiner Sammlung. Nun gehört die Frage nach der Aufrichtigkeit dieser Aussage nicht umsonst zu den klassischen Streitpunkten der Cervantes-Forschung – unternimmt man den Versuch, die Exemplarität bzw. genauer: den ostentativ ausgestellten moralischen Nutzen der Novelas ejemplares ernst zu nehmen, so stellt sich unweigerlich die Frage, worin genau dieser besteht.
Das Forschungskolloquium setzt an diesem Punkt in der skizzierten gattungs- und emotions- bzw. affekthistorischen Perspektive an. Es geht von der These aus, dass die Exemplarität der cervantinischen Novellen in der Verhandlung von Affekten begründet ist. Sie machen den Affekt als konstituierendes Element der frühneuzeitlichen Welterfahrung sichtbar, indem sie ein breites Affektspektrum entfalten und den Blick auf die ethisch-gesellschaftspolitischen und die erzählerischen Wirkungsmechanismen von Affekten lenken: Ordnungstransgressionen auf Handlungsebene werden durch Affekte wie Verlangen, Mut, Hass, Eifersucht oder Furcht motiviert und getragen; Versuche der Ordnungsrestitution scheitern an ebensolchen Affekten, oder sie gelingen durch Affekte wie Liebe, Freude, Mitleid oder Bewunderung. Anders formuliert: Anhand von Affekten werden alte und potentielle neue Ordnungen sowie alternative Formen der Subjektkonstitution, wie sie die Novelle im Modus des Erzählens erprobt, lesbar.
Hiervon ausgehend will das Forschungskolloquium der zentralen Frage nachgehen, inwieweit die bei Cervantes pointiert lesbar werdende Verbindung von Novelle, Affekt und Exemplarität für die frühneuzeitliche Romania insgesamt geltend gemacht werden kann. Mit Cervantes’ Novelas ejemplares und über diese hinaus zeigt sich, dass der Verbindung von Novelle und Affekt eine überaus bemerkenswerte Dynamik eignet, die zu fortwährenden Erneuerungen bzw. ‚Novellierungen‘ der Novellistik führt: Es entstehen konkurrierende Konzeptionen der Gattung ‚Novelle‘, die auf je eigene Weise als Affekt-Erzählungen zu begreifen sind.
Das Forschungskolloquium widmet sich ebendiesen Affekt-Erzählungen zwischen ca. 1550 und 1650, d.h. in einem Zeitraum, der vom Tridentinum und dessen emotions- und literaturhistorischen Folgen einerseits und poetologischen Diskussionen, die – in Frankreich etwa im Umfeld von Segrais’ Nouvelles françaises – den Begriff der Novelle selbst zum prominenten Problem erheben, andererseits flankiert wird. Es ist kaum zufällig, dass in diesen Zeitraum für die europäische Novellistik richtungsweisende Novellen eines Matteo Bandello, eines Giambattista Giraldi, einer María de Zayas oder einer Marguerite de Navarre fallen. In den Blick genommen werden sollen solche Affekt-Erzählungen dieser und anderer Autor*innen, die sich als exemplarisch erweisen, weil sie den Stellenwert der Affekte auf den Ebenen der Handlungs- und Figurenkonzeption, der erzählerischen Gestaltung sowie der Verhandlung von ‚Welt‘ und Wirklichkeit beispielhaft bzw. mit besonderer Anschaulichkeit augenfällig machen oder / und weil sie eine historisch markante Positionierung zur Erzähltradition des Exemplarischen und, damit verbunden, zum Verhältnis von (unterhaltsamem) Erzählen und moralisch-belehrender Anspruchshaltung in der Novelle vornehmen.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die geplanten Vorträge und Diskussionen folgende leitende Fragestellungen:
1. Anhand welcher erzählten ‚Fälle‘ werden welche Affekte verhandelt? Gibt es Affekte, die in bestimmten Konzeptionen der Novelle dominant gesetzt oder ausgeblendet werden? In welchem Verhältnis steht das erkennbar werdende Affektspektrum bzw. die Hierarchisierung von Affekten in einer Novelle / Novellensammlung mit Diskussionen, die im 16. und 17. Jahrhundert außerhalb der Literatur (in Theologie, Philosophie, Medizin u.a.) über die Affekte geführt werden?
2. In welchem Verhältnis stehen Affekt und unterhaltendes Erzählen resp. Affekt und moralisch-belehrender Anspruch? Welche Ordnungen werden über welche Affekte sichtbar gemacht? Welche ‚zivilisatorischen‘ Ideale stehen hinter diesen Ordnungen? Sind ebendiese Ideale affektiv geprägt, und ist deren erzählerische Sichtbarmachung an bestimmte Affekte gebunden?
3. Inwiefern erlaubt die Affekt-Perspektive, den nationalphilologisch geprägten ‚großen Erzählungen‘, die die frühneuzeitliche Novellistik betreffen, differenziertere Sichtweisen entgegenzustellen? Welche kulturraumübergreifenden Entwicklungen und historische Binnendynamiken werden sichtbar, wenn die Novelle als sich fortwährend erneuernde Affekt-Erzählung aufgefasst wird?
Für das Forschungskolloquium sind Beiträge willkommen, die für den hier vorgeschlagenen Zugang ‚exemplarische‘ Novellen / Novellensammlungen in den Blick nehmen, um die genannten Fragestellungen aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Vorschläge (Titel und ca. halbseitige Beschreibung) werden bis zum 30. September 2024 per Mail an hendrik.schlieper@uni-paderborn.de erbeten.
Organisation / Kontakt:
Jun.-Prof. / PD Dr. Hendrik Schlieper
Universität Paderborn
Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft
go.upb.de/schlieper
Beitrag von: Hendrik Schlieper
Redaktion: Robert Hesselbach