Am 9. Juli 2025 verstarb Prof. Dr. Harald Thun im Alter von 79 Jahren. Mit ihm verliert die Romanistik einen ebenso vielseitigen wie analytisch präzisen Sprachwissenschaftler, der über mehrere Jahrzehnte hinweg die romanistische Varietätenlinguistik, Kontaktforschung, Geolinguistik und historische Soziolinguistik maßgeblich mitgestaltet hat.

Harald Thun wurde am 7. August 1945 in Falkenberg in Pommern geboren. Er studierte Romanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Kiel, Tübingen und Pau. Nach dem Staatsexamen 1972/73 wurde er wissenschaftlicher Assistent bei Eugenio Coseriu in Tübingen, wo er mit einer sprachvergleichenden Arbeit zur Phraseologie promoviert wurde (Probleme der Phraseologie. Untersuchungen zur wiederholten Rede mit Beispielen aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen und Rumänischen , Tübingen, Niemeyer, 1978). Die Habilitation folgte 1984 an der Universität Münster bei Horst Geckeler mit einer Studie zu Syntax, Textlinguistik und Pragmatik (Personalpronomina für Sachen, Tübingen, Narr, 1986).

Nach Stationen in Bukarest, Montevideo und Berlin war Harald Thun zunächst Professor an der Universität Mainz (1985–1993). 1994 wurde er an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 2011 lehrte und forschte – und weit darüber hinaus akademisch aktiv blieb.
Sein wissenschaftliches Werk zeichnet sich durch konzeptuelle Klarheit, methodische Breite und ein hohes Maß an sprachlicher Sensibilität aus. In der Forschung zur Phraseologie, zur Typologie pronominaler Systeme, zur Sprachvariation und Geolinguistik sowie zur Kontaktlinguistik setzte Harald Thun richtungsweisende Impulse – oft an der Schnittstelle zwischen der Analyse einzelner Sprachen und einer vergleichenden, typologisch reflektierten Perspektive. Zwischen 2001 und 2003 war Harald Thun Vorsitzender des Deutschen Romanistenverbands – ein Ausdruck der fachlichen Anerkennung, die ihm innerhalb der Disziplin zuteilwurde und die ihm die Gelegenheit bot, den Deutschen Romanistentag 2003 in Kiel zu organisieren.

Eine empirische Fundierung seiner sprachwissenschaftlichen Forschung war ihm bereits in seiner Zeit in Mainz ein zentrales Anliegen. Der dezidiert empirische Ansatz war dabei bewusst gewählt – als Möglichkeit, die theoriebetonten Konzepte seines akademischen Umfelds zu überprüfen, zu ergänzen und in neues Licht zu rücken. Nach seiner Berufung an die Universität Kiel entwickelte sich sein Wirken zusätzlich in dieser Ausrichtung weiter: Ihn zeichnete ein deutlicher Drang zur Feldforschung aus, dem später eine ebenso intensive Auseinandersetzung mit archivalischen Quellen folgte. Aus diesen empirischen Grundlagen schöpfte er nicht nur, um theoretisch fundierte Modelle infrage zu stellen, sondern auch, um seine akademischen Gespräche mit Beobachtungen aus der Feldforschung und zahlreichen Anekdoten – nicht selten causos seiner südamerikanischen Informanten – anschaulich und lebendig zu gestalten. Neben seiner analytischen Schärfe und konzeptuellen Durchdringung sprachlicher Phänomene verfügte Harald Thun über eine außergewöhnliche Gewandtheit im mündlichen und schriftlichen Umgang mit zahlreichen romanischen Sprachen sowie mit Guaraní.

Ein besonderer Schwerpunkt seiner akademischen Laufbahn lag auf der Konzeption und Durchführung einer dreiteiligen Serie geolinguistischer Projekte zur Sprachvariation im südamerikanischen Raum, die er als Trilogía rioplatense verstand. Der Atlas lingüístico Diatópico y Diastrático del Uruguay (ADDU), den Harald Thun gemeinsam mit Adolfo Elizaincín realisierte, untersucht die innerromanische Variation und den Kontakt zwischen Spanisch und Portugiesisch in Uruguay. Der Atlas lingüístico Guaraní-Románico (ALGR), den er zusammen mit Almidio Aquino, Wolf Dietrich und Haralambos Symeonidis entwickelte, widmet sich dem Sprachkontakt zwischen Spanisch und Guaraní. Den dritten Teil bildet der Atlas das minorias alemãs na Bacia do Prata – Hunsrückisch (ALMA-H), den er in Kooperation mit Cléo Vilson Altenhofen erarbeitete und in dem die deutschen Einwanderervarietäten im romanischsprachigen Umfeld dokumentiert werden. Gemeinsam eröffnen die Atlanten einen komplexen Blick auf Sprachkontakt und Variation unter genealogisch und soziolinguistisch unterschiedlichen Bedingungen.

Das Konzept einer pluridimensionalen Geolinguistik, das Harald Thun entwickelte, verbindet regionale, soziale und funktionale Aspekte von Sprache in einem integrativen Modell. Es hat sowohl in der romanistischen Dialektologie als auch in der internationalen Varietätenlinguistik neue Wege eröffnet und wurde – neben der Hispanistik und Lusitanistik auch in der Italianistik – stark rezipiert. Diese Forschungslinien fanden einen besonders markanten Ausdruck in dem von Harald Thun und Edgar Radtke herausgegebenen Band Neue Wege der romanischen Geolinguistik. Akten des Symposiums zur empirischen Dialektologie (Kiel, Westensee-Verlag, 1996). Die Beiträge dieses Symposiums spiegeln die Entwicklung hin zu einer Dialektologie, die nicht mehr nur Raumverhältnisse (Diatopie), sondern zusätzlich diastratische, diaphasische, diagenerationelle und weitere Dimensionen berücksichtigt.

Ein weiteres zentrales Projekt, das Harald Thun – nach eigener Aussage aufgrund einer Anregung seiner aus Südfrankreich stammenden Frau Jacqueline – initiierte und leitete, war das Corpus Historique du Substandard Français (CHSF). Ziel war es, schriftliche Ausdrucksformen der französischen Unterschichten zwischen 1789 und 1918 systematisch zu dokumentieren und in die historiographische Sprachgeschichtsschreibung einzubeziehen. Im Jahr 2014 fand in diesem Kontext an der Universität Kiel das interdisziplinäre Symposium Unterschichten, Schriftlichkeit und Sprachgeschichte statt, das Beiträge aus Linguistik, Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Anthropologie zusammenführte. Die Ergebnisse wurden im Band Scripturalité des classes populaires et histoire de la langue (Kiel, Westensee-Verlag, 2018) veröffentlicht, herausgegeben von Harald Thun, Rainer Zaiser und Joachim Steffen. Diese Veröffentlichung formuliert zentrale methodische Grundlagen für eine Sprachgeschichte „von unten“, in der substandardsprachliche Textzeugnisse nicht defizitär, sondern als eigenständige schriftkulturelle Formen ernst genommen werden.

Ein besonderes Interesse galt dem Guaraní als einer der zentralen indigenen Kontaktsprachen im hispanophonen Südamerika. Gemeinsam mit Leonardo Cerno und Franz Obermeier edierte er den historisch wichtigen Text Guarinihape tecocue – Lo que pasó en la guerra (1704-1705). Memoria anónima en guaraní del segundo desalojo de la Colonia del Santo Sacramento/Uruguay de los portugueses por los españoles (Kiel, Westensee-Verlag, 2015). Die Edition verbindet philologische Sorgfalt mit sprach- und kulturgeschichtlicher Tiefenschärfe und markiert einen herausragenden Beitrag zur Erforschung kolonialzeitlicher Schriftlichkeit in Guaraní. Seine letzten beiden DFG-Projekte, die er während seiner Emeritierung in Kodirektion mit Joachim Steffen leitete und deren zweites erst 2025 begonnen hat, galten ebenfalls kolonialzeitlichen Manuskripten in Spanisch und Guaraní. Das laufende Projekt Rescate del “Paraguay Cultivado” wird in wissenschaftlicher Kontinuität und in seinem Sinne fortgeführt werden – getragen von der Überzeugung, dass Harald Thuns Beiträge weiterhin maßgeblich für die künftige Arbeit bleiben.

Harald Thun war ein Wissenschaftler, dessen Arbeit durch Disziplin und Weitsicht geprägt war – eine notwendige Voraussetzung für geolinguistische Großprojekte. An Eugenio Coseriu, dessen Denken ihn zeitlebens begleitete, schätzte er die Eigenschaft, an Überzeugungen festzuhalten und argumentativ zu vertreten, ohne gegenüber Einwänden unempfänglich zu sein – eine Haltung, die auch ihn selbst auszeichnete. In der Feldforschung beeindruckte er durch akribische Genauigkeit, ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen für sprachliche Details – die er regelmäßig abends im Notizbuch dokumentierte – und durch einen zugewandten Umgang mit seinen Gesprächspartnern. Diese Haltung prägte auch seinen Kontakt zu internationalen Gästen an der Universität Kiel, die er stets mit großer Herzlichkeit empfing. Was er an Impulsen gesetzt hat, wird in vielen Bereichen weiterwirken.

Beitrag von: Joachim Steffen

Redaktion: Robert Hesselbach