Call for Papers: "Politische Lektüren der hybriden Gattung", Workshop, 04.-06.03.2026, Universität Bonn
Stadt: Bonn
Frist: 2025-12-15
Beginn: 2026-03-04
Ende: 2026-03-06
Gehalt: -
Das Hybrid – eine Entlehnung aus der Biologie – bezeichnet ein „durch Kreuzung entstandenes Wesen“ (Seebold 2012, S. 433). Diente der Begriff im 19. Jahrhundert noch zur Stützung kolonialrassistischer Diskurse, verlor er im deutschsprachigen Raum um die letzte Jahrtausendwende seine negative Konnotation und wich einem positiv besetzten Produktionsversprechen (Ha 2005). Zum Modewort mit politischem Impetus avanciert, suggeriert das Hybride, durch „nicht festlegbare in between-Kategorien hegemoniale Konzepte und gesellschaftliche Machtverhältnisse zu hinterfragen und zu destabilisieren“ (ebd., S. 16). Seither haben die Geisteswissenschaften das Hybrid als Allegorie sozialer Prozesse mit Begriffen wie „Kreolisierung“ (Hannerz), „Bastardisierung“ (Rushdie), „Transkulturation“ (Pratt), „Third Space“ (Bhabha), „Interkultur“ (Auernheimer) u.a. theoretisiert (ebd.).
Auch in Lateinamerika ist das Hybrid kulturtheoretisch kontrovers diskutiert worden. Néstor García Canclini hat in den 1990er Jahren mit dem Begriff der hibridación versucht, die Prozesse gesellschaftlicher Verflechtungen in der Moderne zu umschreiben. Diesen Hybriditätsbegriff wiederum kritisierte zuletzt Silvia Rivera Cusicanqui, die ihm vorwirft, in biologistischer Manier eine Synthese in Form eines harmonischen Dritten zu beschwören. Sie postuliert deshalb einen in andinen Epistemologien verorteten Gegenentwurf, der den Konfliktcharakter der Unterschiede nicht nivelliert, sondern bewahrt: Ch’ixi beschreibt aus dekolonialer Perspektive deshalb weniger die durch Mischung ‚neu‘ entstandene Einheit der Gesellschaft, sondern „the parallel coexistence of multiple cultural differences that do not extinguish but instead antagonize and complement each other“ (Rivera Cusi-canqui 2012, S. 105).
Dass die Literaturwissenschaft das Hybrid als Analysekategorie heranzieht, erscheint vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskurse kaum verwunderlich. Auch in der Gattungsfrage steht sie zunächst vor der formalen Herausforderung, dass sich hybride Gattungen seit jeher einer klaren Zuordnung zu architextuellen Kategorien entziehen. Gleichwohl sind zahlreiche zwittrige Formen entstanden (und entstehen weiterhin): vom Lehrgedicht über die Tragikomödie, das Prosagedicht, die crónica urbana und das testimonio bis hin zur Graphic Novel. So verschieden diese Formen auch sein mögen, sie kombinieren allesamt Elemente unterschiedlicher, nicht selten konträrer Texttraditionen. Ihre genuine Form der Kreuzung wurde deshalb unter einer Vielzahl an Tropen zu fassen versucht, die das Dazwischen betonen: Schnabeltier, Chamäleon, Amalgam, Hybrid, etc.
Bruno Latour argumentiert in seinem Essay Nous n’avons jamais été modernes, dass das Denken in der Moderne durch die ihr zugrunde liegende Dichotomie von Kultur und Natur Hybride überhaupt erst erzeugt. Demzufolge wäre Hybridität kein ontologischer Zustand, sondern ein Effekt der modernen Wissensproduktion. Kurzum: Die Irritation, die das Hybrid hervorruft, ist seit der Moderne als Symptom der Logik der Trennung zu verstehen (Latour 1994). Unter Bezugnahme auf Latours Thesen demonstriert Ramunė Markevičiūtė am Beispiel des Lehrgedichts, dass sich im Europa der Frühen Neuzeit verschiedene Wissenstraditionen miteinander vernetzt haben und daher die Gattung als epistemische Ressource aufzufassen ist (2025).
Insbesondere marxistische Theorien haben die literarische Form in einen sozio-historischen Bezugsrahmen gerückt (Lukács, Adorno und Rancière). Nicht selten entstanden daraus, gerade im postkolonialen Kontext, Lektüren des Third Space, die sich dem Ausdruck marginalisierter Stimmen verschreiben. Fernab der affirmativen Lesart lassen sich jedoch zugleich auch negativistische Lektüren ausmachen, die das Hybrid als falsche Aufhebung im Sinne der strategy of containment Fredric Jamesons verstehen – die Form wird zum Scheinkompromiss, schließlich entrinnt auch die Hybridität der Ideologie nicht.
Hybride Gattungen stiften nach wie vor Unruhe. Die literaturwissenschaftliche Forschung steht immer wieder vor dem Problem, „trotz der Heterogenität der Texte stilistische Archetypen für Kanon- und Gattungsregeln zu erstellen“ (Borsò 1994, S. 285). So tendiert sie beispielsweise dazu, das poème en prose sowohl als (poetische) Prosa als auch als (prosaische) Poesie zu beschreiben (Illouz / Neefs 2002, S. 8). Gleiches lässt sich mit Blick auf die mexikanische crónica konstatieren, die entweder als historiografischer oder literarischer Text begriffen wird (Borsò 1994). Erst mit der Akzeptanz als hybride Form lässt sich diese Aporie überwinden und überdies die Stärke zwischen den Kategorien hervorkehren. Indem die crónica – dank ihres hybriden Charakters – gleichermaßen im historischen, publizistischen und literarischen Feld wirkt, offenbart sie ihr Potenzial, das sie laut Vittoria Borsò zu einer „Kultur ohne Gattungs- und Klassengrenzen“ (1994, S. 282) avancieren lässt.
Welche Konsequenzen hat es nun für die Literaturwissenschaft, wenn das Hybrid nicht nur zur Allegorie für Gesellschaft, sondern auch für literarische Gattungen wird? Welches (politische) Begehren wird auf Textgattungen projiziert, wenn die Charakterzüge des Hybrids – Gleichzeitigkeit, Antagonismus und Unvereinbarkeit – auch für die Konstitution von Texten geltend gemacht werden? Lässt sich die literarische Kategorisierung als Hybrid (sowie die daraus resultierenden Interpretationen) nach der kontroversen Diskussion um den Begriff der Hybridität gar als ideologischer Akt begreifen?
Unser Workshop ist diesen sozio-historischen Lesarten hybrider Formen gewidmet. Gemeinsam wollen wir die politischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen hybrider Gattungen für die Literaturwissenschaft ausloten und die zwittrigen Formen zwischen Potenzial und Projektion kritisch verorten. Der Workshop versteht sich selbst als Hybrid, insofern europäische und lateinamerikanische Denktraditionen sowie literaturwissenschaftliche Ansätze unterschiedlicher Disziplinen in Austausch treten. Wir laden dazu ein, über die bislang oft unterrepräsentierten, jedoch historisch aufgeladenen literarischen Amalgame ins Gespräch zu kommen und sich im Rahmen dessen mit folgenden Themen und Annäherungspunkten auseinanderzusetzen:
• Welches politische Potenzial trägt eine Ästhetik des Dazwischen?
• Inwiefern trägt die Allegorie des Hybriden ein politisches Begehren in die traditionelle Literaturwissenschaft ein?
• Welche Wechselwirkungen lassen sich zwischen hybriden Textformen und heterogenen Gesellschaften, zwischen literarischen Kategorien und politischem Wandel ausmachen?
• Inwiefern lässt sich die hybride Form (und ihre zeitgenössische Interpretation) selbst historisieren?
• In welchem Verhältnis steht das Partikulare der hybriden Form zu seinem Allgemeinen? Lassen sich Forschungsergebnisse zu diversen hybriden Formen zu einer literarischen Theorie des Hybriden verallgemeinern?
• Wenn Michail Bachtin den Roman auf textueller Ebene in seiner sprachlichen Hybridisierung analysiert: Wo fängt literarische Hybridisierung an, wo hört sie auf?
Der Workshop findet vom 04. bis 06. März 2026 an der Universität Bonn als Präsenzveranstaltung statt. Die Vorträge sind auf 20 Minuten angelegt, anschließend folgt eine Diskussion von gleicher Dauer. Als Keynotes werden Prof. Vittoria Borsò (HHU Düsseldorf) und Prof. Benjamin Loy (LMU München) an der Veranstaltung teilnehmen. Interessierte bitten wir darum, ein Abstract von max. 500 Wörtern (+ Bibliographie) sowie eine kurze biographische Angabe bis spätestens 15. Dezember 2025 an folgende Adressen zu senden:
Leon Schött: schoettl@uni-mainz.de und Inés Noé: inoe@uni-bonn.de
Eine Teilnahmebestätigung kann auf Wunsch ausgestellt werden. Die Reise- und Übernachtungskosten werden vom GRK 2291 Gegenwart/Literatur vollumfänglich übernommen. Für weitere Fragen stehen wir gerne per E-Mail zur Verfügung.
Bibliographie:
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7. Herausgegeben von Gretel A-dorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften 11. Herausgegeben von Gretel A-dorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2022.
Agamben, Giorgio: Idee der Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Bachtin, Michail M.: Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
Bhabha, Homi K.: Location of Culture. London / New York: Routledge 2004.
Borsò, Vittoria: „Entre-lugar”, in: iMex. México Interdisciplinario 1 (2021), S. 102–142.
Borsò, Vittoria: „Mexikanische ‘Crónicas’ zwischen Erzählung und Geschichte – Kulturtheoretische Überlegungen zur Dekonstruktion von Historiographie und nationalen Identitätsbildern“, in: Birgit Scharlau (Hg.): Lateinamerika Denken: Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Narr 1994, S. 278–296.
Bürger, Peter: Studien zur französischen Frühaufklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972.
Bürger, Peter: Aktualität und Geschichtlichkeit. Studien zum gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
Cornejo Polar, Antonio: Mestizaje e hibridez: los riesgos de las metáforas. La Paz: Universidad Mayor de San Andrés 1997.
García Canclini, Néstor: Culturas híbridas: estrategias para entrar y salir de la modernidad. México D.F.: Grijalbo 1990.
Ha, Kien Nghi: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld: transcript 2005.
Illouz, Jean-Nicolas / Neefs, Jacques: „Présentation“, in dies. (Hgg.): Crise de prose. Saint-Denis: Presses Universitaires de Vincennes 2002, S. 5–10.
Jameson, Fredric: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca / New York: Cornell UP 1981.
Jameson, Fredric: „The Existence of Italy“, in ders.: Signatures of the Visible. London u.a.: Rout-ledge 1992, S. 155–229.
Latour, Bruno: Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique. Paris: Éd. La Découverte 1994.
Lukács, Georg: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas. Herausgegeben von Frank Benseler. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand 1981.
Markevičiūtė, Ramunė: Das lateinische Lehrgedicht der Frühen Neuzeit im Angesicht der Moderne. Eine Theorie hybrider Dichtung. Berlin / Boston: De Gruyter 2025.
Michler, Werner: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750-1950. Göttingen: Wallstein 2015.
Mundhenke, Florian: Zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Zur Repräsentation und Rezeption von Hybrid-Formen. Wiesbaden: Springer 2017.
Pratt, Mary Louise: „Arts of the Contact Zone“, in: Modern Language Association (Hg): Profession (1991), S. 33–40.
Rancière, Jacques: Politique de la littérature. Paris: Galilée 2007.
Rivera Cusicanqui, Silvia: „Ch’ixinakax utxiwa: A Reflection on the Practices and Discourses of Decolonization“, in: The South Atlantic Quarterly 111:1 (2012), S. 95–109.
Rivera Cusicanqui, Silvia: Un mundo ch’ixi es posible. Ensayos desde un presente en crisis. Buenos Aires: Tinta Limón 2018.
Schmidt, Elmar: „Hybride Gattungen und mediale Transformationen. Ökologische Positionen in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Chronik und Testimonialliteratur“, in: Evi Zemanek (Hg.): Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 355–378.
Seebold, Elmar: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / Boston: De Gruy-ter 2012.
Terdiman, Richard: Discourse/Counter-Discourse. The Theory and Practice of Symbolic Resistance in Nineteenth-Century France. Ithaca / London: Cornell UP 1989.
Beitrag von: Inés Noé
Redaktion: Julius Goldmann