CfP: Literaturwissenschaftliche Sektion: "Literarische Mehrsprachigkeit vom 16. Jhd. bis zur Gegenwart: Der Text als (inter)kulturelle Resource
Stadt: Kassel
Frist: 2026-01-31
URL: https://francoromanistes.de/literaturwissenschaft-sektionen-kassel/
Im Zuge der aktuellen globalen Migrationsbewegungen und der Globalisierung, die den Sprachkontakt und – Wechsel maßgeblich fördern, ist das Konzept der Mehrsprachigkeit im öffentlichen Diskurs – nicht nur in Deutschland und Frankreich – allgegenwärtig: Erforschungen zu diesem Thema gehören seit längerer Zeit zum festen Repertoire der (Sozio)Linguistik, der Erziehungswissenschaft und der Fachdidaktik. Dies darf jedoch keinesfalls den Blick darauf verstellen, dass Mehrsprachigkeit nicht erst ein Phänomen unserer Gegenwart ist, sondern eine lange Tradition besitzt, die sich vor allem in der Literatur nachvollziehen lässt. Das früheste Beispiel für die Koexistenz mehrerer Schriftsprachen stellt der sogenannte Stein von Rosette dar, dessen Inschrift Parallelversionen eines Synodaldekrets aus dem Jahr 196 v. Chr. in drei Sprachen präsentiert; die Bedeutung der Mehrsprachigkeit im römischen Alltag lässt sich unter anderem anhand der plautinischen Komödie sowie am Sprachgebrauch klassischer Autoren wie Cicero aufzeigen, der Kommentare zum eigenen Konsulat in Griechisch und Latein verfasste, die jedoch vollständig verloren sind, und der seine Überlegungen nicht zuletzt der Praxis des Übersetzens widmete. Man könnte sogar sagen, dass die Literatur früherer Jahrhunderte (v.a. in Mittelalter und Früher Neuzeit) gerade nicht in der Erstsprache der Autor_innen verfasst wurde, sondern dass bestimmte Textsorten aus vornehmlich strategischen Gründen bewusst mehr oder weniger mehrsprachig angelegt wurden. Dies macht deutlich, dass literarische Mehrsprachigkeit nicht unweigerlich mit Migrationsprozessen verbunden sein muss: Mindestens ebenso wichtig, vor allem in früheren Zeiten, sind kulturelle Transferprozesse und Bildungskonzepte, die gerade nicht mit Migrationsbewegungen einhergehen. Dementsprechend ist der Einsatz mehrerer Sprachen in literarischen Texten in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen historischen, politischen, soziokulturellen Kontext auch nicht ausschließlich als Praktik der kulturellen Assimilation oder Aneignung zu werten. In jedem Fall stellt sich die Frage, wie die sprachliche Wahl zwischen der Erstsprache und einer anderen Sprache individuell zu begründen ist und welche Konsequenzen sie mit sich bringt.
Gerade im literaturwissenschaftlichen Bereich besteht nach wie vor ein Nachholbedarf – insbesondere mit Blick auf die Erforschung früherer Jahrhunderte – da das besondere Augenmerk von bislang entstandenen Untersuchungen auf der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ und der Frankophonie liegt. Die bisherige Mehrsprachigkeitsforschung richtet sich vor allem auf mehrsprachige Texte, also auf die sprachliche Vielfalt innerhalb eines literarischen Werkes (im Sinne der Heteroglossie nach Michail Bachtin). Dabei handelt es sich tatsächlich auch um die quantitativ überwiegende Form der literarischen, textinternen Mehrsprachigkeit: Dennoch wird das Phänomen mehrsprachiger Autor_innen, die ihre Werke in unterschiedlichen Sprachen verfassen (Polyglossie), stark vernachlässigt. Das in der Sektion zugrunde gelegte Konzept von literarischer Mehrsprachigkeit umfasst explizit beide Fälle. In zeitlicher Hinsicht gilt es dabei prinzipiell zu unterscheiden zwischen simultaner und konsekutiver literarischer Mehrsprachigkeit. Der Selbstübersetzung, wie sie geradezu idealtypisch von Samuel Beckett repräsentiert wird, kommt in diesem Zusammenhang besondere Relevanz zu. Es soll zudem untersucht werden, ob die Sprachwahl auch von der jeweiligen literarischen Gattung abhängt.
In der geplanten Sektion, die explizit interdisziplinär angelegt ist, soll die literarische Mehrsprachigkeit in diachroner Perspektive (16.-21. Jh.) und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen werden. In diesem Sinne könnte ebenso danach gefragt werden, welche Funktionen die Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit im Kontext der Herausbildung von Nationalliteraturen und neuen Bildungskonzepten spielt, wie danach, welche politisch-kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen die Sprachwahl im Kontext des (Post-)Kolonialismus besitzt oder auch wie die literarische Mehrsprachigkeit als sprachliche Bereicherung gedeutet werden kann. In den Blick genommen werden soll dabei sowohl der Zusammenhang von literarischer Mehrsprachigkeit und individueller Identität bzw. poetischer Kreativität.
Literarische Mehrsprachigkeit soll dabei insgesamt als (immaterielle) Ressource herausgestellt werden, und zwar sowohl für (inter-)kulturelles Wissen als auch im Sinne ihrer Rolle in der Herausbildung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Idee des Mehrwerts der Multi- oder Interkulturalität. Die Analyse von Fallbeispielen bietet die Möglichkeit, Zugang zu kulturellen, sprachlichen und sozialen Differenzen zu erhalten. Gefragt wird nach der kulturpolitischen Bedeutung von Literatur, wobei auch die Funktionsbestimmung und kulturelle Wertigkeit der literarischen Mehrsprachigkeit bestimmt werden sollen. Ziel ist damit nicht zuletzt, den Zusammenhang von Sprache und Kultur sowie die ethischen Implikationen, aber auch die ästhetische Dimension auszuloten. Vorträge können auch der Betrachtungen des globalen Buchmarktes, der literarische Werke in ‚großen‘ Sprachen präferiert, gewidmet sein.
Wir bitten um Vortragsvorschläge in dt. oder frz. Sprache mit einer Länge von höchstens 500 Wörtern (zzgl. Bibliographie) bis zum 31. Januar 2026 an die folgenden Adressen: ippolito@uni-potsdam.de ; Nickel@em.uni-frankfurt.de
Für die Einreichungen bitten wir die Vorlage zu nutzen, die Sie auf https://francoromanistes.de/literaturwissenschaft-sektionen-kassel/ finden. Über die Annahme der Beiträge wird bis zum 28. Februar 2026 informiert.
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Beitrag von: Antonella Ippolito
Redaktion: Robert Hesselbach