Faking it and Making it: Lying and Deceiving in Poetics and Politics (LMU-Princeton Graduate Seminar 2026)
Stadt: Princeton, New Jersey
Frist: 2026-01-15
Beginn: 2026-06-01
Ende: 2026-06-03
URL: https://german.princeton.edu/programs/summer/lmu-princeton-graduate-seminar-2026
Alle Dichter lügen: Mit einer Beharrlichkeit, die nur wenigen anderen Gemeinplätzen zu eigen ist, zieht sich dieser Vorwurf durch die europäische Ideengeschichte. Seine Durchsetzungskraft verdankt sich zweifellos seiner treffenden Formulierung und polemischen Zuspitzung. Doch die grundlegende Bedeutung für Philosophie und Poetik muss auf einer tieferen Ebene aufgesucht werden. Denn der Vorwurf, der Dichter lüge, ruft tiefliegende Grundannahmen darüber auf, was den literarischen Diskurs von anderen kulturellen Ausdrucksformen unterschiedet. Es ist kein Wunder, dass prominente Namen der Philosophiegeschichte wie Platon, Aristoteles oder Nietzsche in immer raffinierteren Wendungen auf diese traditionsreiche Anklage Bezug genommen haben, oder dass Hans Blumenberg die gesamte Tradition der Literaturtheorie als Auseinandersetzung mit dieser Provokation beschreibt. Den Dichter einen Lügner zu nennen, wirft die Frage auf, was es eigentlich bedeutet, zu erfinden, nachzuahmen oder darzustellen; zugleich wird auf diese Weise der uralte Wahrheitsanspruch der Philosophie zur Sprache gebracht. Dass die Anklage bis in die Gegenwart immer wieder neu formuliert wird, mag daher weniger von einem fortwährenden Misstrauen gegenüber der Dichtung zeugen als von der ungebrochenen Faszination für die Grenze zwischen Erfindung und Wahrheit – eine Grenze, die die Philosophie seit langem zu kontrollieren versucht und die die Dichtung gleichwohl beharrlich überschreitet.
Dass Platon den Vorwurf, die Dichter seien Lügner, in einem politischen Traktat erhebt, ist aufschlussreich: Dies deutet darauf hin, dass Dichtung und Politik nicht bloß parallele, sondern rivalisierende, miteinander wetteifernde Weisen sind, Plausibilitäten zu generieren und durchzusetzen. Die Grenze zwischen Erfindung und Wahrheit reicht über die ästhetische Sphäre hinaus ins Politische. Denn Darstellungen von Dinge und Sachverhalten werden in deliberativen Regierungsformen stets genutzt, um Überzeugungen zu stiften und Konsense zu formieren. Die Linie, die Wahres von Falschem, Authentizität von Täuschung trennt, markiert eine Grenze, deren Überschreitung im öffentlichen Leben spürbare Konsequenzen nach sich zieht. Zwar scheinen die Begriffe, die noch vor Kurzem eine neue epistemische Krise im Bereich des Politischen zu benennen schienen – „Fake News“, „alternative Fakten“ – bereits schal geworden, abgestumpft durch Wiederholung und übermäßigen Gebrauch sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in dessen kritischer Reflexion. Dennoch kann es kaum einen Zweifel geben, dass die Gefahren, die diese Begriffe so dringlich signalisierten, Teil des politischen Lebens sind. So extrem die diskursiven Konstellationen auch sein mögen, die das gegenwärtige Medienumfeld eröffnet: Die Verflechtung von Überzeugung und Unwahrheit hat schon immer zur Grammatik der politischen Kultur gehört. Die Nähe der Politik zur rhetorischen Tradition sollte uns daran erinnern, dass Manipulation und Täuschung keine äußerliche Korruption des Diskurses sind. Sie sind für die Kunst des Überredens und Überzeugens, auf der alle Formen des öffentlichkeitsorientierten Regierens beruhen, vielmehr konstitutiv.
Außerdem lassen sich Politik und Poetik ohne die für sie grundlegenden Begriffe wie Rolle oder Repräsentation nicht angemessen verstehen. Der Begriff der Repräsentation dient dazu, diverse ästhetische und politische Aktivitäten zu beschreiben und zu legitimieren. Repräsentationen vermitteln demgemäß zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Imaginierten und dem Realen und machen so die grundlegenden Spannungen des poetischen und politischen Lebens sichtbar. Der Begriff der Rolle wurde am nachdrücklichsten in den Werken von Georg Simmel und Erving Goffman entwickelt: Er ist nicht nur zentral für das theatrale Verhältnis zwischen Schauspieler und Aufführung, sondern er berührt den Kern sozialer Existenz als solcher. Das menschliche Leben entfaltet sich, so Simmels und Goffmans These, durch eine ständige Verhandlung zwischen der singulären Person und allgemeineren Statuszuschreibungen, die durch Interaktionen, Konventionen und Erwartungen hervorgebracht werden. Die Bühne spiegelt also die Alltagswelt – und umgekehrt. Es gibt auch Figuren, die beiden Sphären unlösbar anzugehören scheinen. Der Hochstapler beispielsweise unterscheidet nicht zwischen politischem Handeln und Schauspielerei. Neben den Hochstapler, dessen Machenschaften Gegenstand unzähliger literarischer Werke und Filme geworden sind, tritt die Figur des Tricksters, die von den Tierepen des zwölften Jahrhunderts bis zu Goethes Hexameter-Allegorie der Französischen Revolution, von Ciceros De Officiis bis zu Machiavellis Il Principe durch den Fuchs symbolisiert wurde. ‚Füchse‘ bedrohen fiktionale Welten ebenso wie die allzu reale politische Welt.
Unser Seminar wird der Frage nachgehen, was es bedeutet zu lügen und was es bedeutet, die Wahrheit zu sagen – beides verstanden als Kulturtechnik und nicht als moralisch überhöhtes Phänomen. Wann und wie wird Lügen als distinkte soziale Handlung beschreibbar, und wann ist sie nicht von den gewöhnlichen Fiktionen zu unterscheiden, die das soziale und politische Leben stützen? Wie inszenieren ästhetische Formen die Grenzen der Wahrhaftigkeit und stellen sie auf die Probe? Inwieweit kann die poetische Lüge als Modus der Wahrheitsfindung dienen, und wo schlägt Rhetorik in bloße Täuschung um? Wir werden auch Sozialfiguren betrachten, die beide Sphären zugleich bewohnen. Der Dichter, der Demagoge oder der Hochstapler lassen die Grenzlinien zwischen Erfindung und Überzeugung, Rhetorik und Erkenntnisstiftung verschwimmen. Indem wir die Geschichte dieser Grenzziehung von der Antike bis zur Moderne nachvollziehen, wollen wir die Lüge nicht einfach als Gegenteil der Wahrheit in dem Blick nehmen, sondern als deren aufschlussreichsten Doppelgänger.
Die Unterkunft und die Verpflegung in Princeton werden für die Dauer des Seminars bereitgestellt; die Teilnehmenden tragen die Reisekosten nach Princeton, New Jersey. Die Diskussionen finden auf Englisch und Deutsch statt.
Zur Bewerbung für das Summer Seminar senden Sie bitte bis zum 15. Januar 2026 einen kurzen Lebenslauf zusammen mit einem Abstract von maximal 400 Wörtern, das eine kurze Präsentation zum Seminarthema skizziert, an LMU-PU@princeton.edu.
Beitrag von: Maximilian Kinder
Redaktion: Robert Hesselbach