Stadt: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Frist: 2015-06-15

Beginn: 2016-02-16

Ende: 2016-02-16

URL: http://www.romanistik.uni-bonn.de/

Vollständiger Text als PDF: http://tinyurl.com/Gam2016CfpDeu – Vollständiger Text auf Englisch: http://tinyurl.com/Gam2016CfpEng

Die Gerechtigkeit als Märchen.
Argumentative Profile der Diskriminierung in der Digitalkultur
Im Rahmen der Bonner Wissenschaftsnacht zum Thema „Digitale Gesellschaft – Wie beeinflusst die digitale Gesellschaft unser Leben?“, die am 22. – 23. Mai 2014 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn stattfand, wurde von meinen Mitarbeitern und mir das sogenannte „Märchendreieck“ präsentiert. Dieses Modell dient uns als pragma-dialektisches Analyseinstrument für den diskriminierenden Diskurs in Online-Foren, Blogs und sozialen Netzwerken im Französischen und Italienischen und (re-)konstruiert eine interdependente Dreiecksstruktur zwischen den archetypischen Rollen OPFER, TÄTER und RETTER. Interessanterweise stellen sich die diskriminierenden Sprecher sehr häufig selbst als OPFER oder zumindest als deren Fürsprecher dar. Als TÄTER werden hierbei bspw. Ausländer, Homosexuelle oder Andersgläubige dargestellt, durch die der Sprecher sich vorgeblich bedroht fühlt, was es ihm gestattet, sich selbst als OPFER zu inszenieren. Die Rolle des RETTERS bleibt häufig vage.
Die Präsentation stieß auf reges Interesse seitens der zahlreichen Besucher und die sich entfaltenden engagierten Gespräche regten zu neuen Ideen und Perspektiven an. Dabei bildet das Märchenmodell eines der in der westlichen Kultur seit jeher am stärksten konsolidierten mentalen Modelle unseres (unbewussten) Denkens ab: Nach Ansicht des Psychotherapeuten Stephen Karpman, der 1968 die drei Rollen als erster in einer dem Märchen entlehnten Dreiecksstruktur („drama triangle“) zueinander in Bezug setzte, liegt es einer Vielzahl menschlicher Interaktionen zugrunde (und regelt zwischenmenschliche Beziehungen in essentiellen Bereichen wie etwa der Familie, der Arbeit und der Politik, indem es Handlungsmuster anbietet: „Fairy tales help inculcate the norms of society into young minds consciously, but subconsciously may provide an attractive stereotyped number of roles, locations, and timetables for an errant life script“ ).

Ende Februar 2015 veröffentlichte die Zeitschrift „forsch“ (Uni Bonn) ein mit mir geführtes Interview unter dem Titel „‚Das Märchendreieck‘ offenbart die wirklichen Täter. Romanistin untersucht diskriminierende Online-Texte“.

Die beträchtliche Resonanz auf das Märchendreieck im diskriminierenden Diskurs der Digitalkultur bekräftigt mich darin, die bereits im Oktober 2012 begonnen Untersuchungen, welche seither durch Vorlesungen, Seminare sowie Bachelor- und Masterarbeiten an der Uni Bonn begleitet und untermauert wurden, in einen breiteren und vielseitigeren Rahmen einzubetten und auszubauen.

Die theoretische Grundlage zu der geplanten Fachkonferenz „Die Gerechtigkeit als Märchen“ geht auf die Beobachtung zurück, dass Sprecher im digitalen Diskurs, wie man ihn etwa in Blogs und Diskussionsforen antrifft, in ihren eigenen diskriminierenden Äußerungen, die gegen eine bestimmte Nationalität, Religion oder Kultur gerichtet sind, gewissermaßen „Märchen erzählen“, um ihre Einstellung als Appell an die Gerechtigkeit darzustellen. Sie argumentieren hierbei – und das ist der zentrale Punkt – mithilfe zweier klassischer Märchenformen, die ihrer diskriminierenden Haltung eine Legitimation verleihen sollen: Es sind die Geschichte von der Selbstverteidigung und die Geschichte von der Rettung (cfr. Lakoff 2004; Lakoff/Wehling 2014). Die hierfür angewandte Analysemethode geht auf die Pragma-Dialektik zurück, welche critical discussions folgendermaßen beschreibt:

The procedure for a critical discussion is thus composed of various types of speech acts used by arguers in daily verbal communication: advancing a standpoint, accepting or not accepting a standpoint (confrontation stage_), challenging the protagonist to defend a standpoint, agreeing on some starting points (opening stage_), arguing, casting doubt on arguments, counter-arguing (argumentation stage) (Lewiński 2010: 50; vgl. hierzu auch van Eemeren/Grootendorst 1984; van Eemeren/Houtlosser/Henkemans 2008; van Eemeren/Grootendorst 2014).

Dabei soll die Gegenüberstellung der einzelnen Sprechakte in den verschiedenen stages nicht nur „dialectical profiles and indicators of argumentative moves“ (van Eemeren et al. 2008) präzise beschreiben und identifizieren. Vielmehr bietet der pragma-dialektische Ansatz die Möglichkeit aufzuzeigen, wie sich die moves der argumentativen Handlungen in verschiedenen kommunikativen Bereichen unterschiedlich ausdifferenzieren. Für mich ist besonders die Frage von Interesse, welche moves in meinen Textbeispielen vorhanden sind.

Im Verlauf der Untersuchung wurden etwa 2000 französische und italienische Online-Beiträge ausgewertet, die alle die Schlüsselwortsequenz frz. „ je ne suis pas raciste, mais “, bzw. it. „ non sono razzista ma “ enthalten. Daraus ergibt sich ein massives Vorkommen expressiver und assertiver Sprechakte, die hinsichtlich ihrer Klassifizierung hauptsächlich den typischen Sprechakten des OPFERS in klassischen Märchenformen (klagen, vorwerfen, befürchten) zuzuordnen sind. Die Profilzusammenstellung und die damit verbundenen moves sind in beiden Datensätzen (französisch und italienisch) sehr ähnlich. Sie weisen eine außergewöhnliche Struktur auf, da sie aus je zwei opening stages und argumentation stages aufgebaut sind. Im ersten opening stage assertiert der Sprecher beispielsweise, kein Rassist zu sein und nichts gegen Ausländer zu haben, und unterstreicht die Aussage, indem er als Argument anführt, Freunde, Partner oder Verwandte zu haben, die ebenfalls Ausländer und dabei „gute Menschen“ seien. Im zweiten, sich unmittelbar anschließenden opening stage assertiert er jedoch, selbst ein OPFER der Ausländer zu sein, und führt als Argumente an, unbeschreibliche Gewalttätigkeiten erfahren zu haben; er wirft den Ausländern vor, dass sie vergewaltigen, mit Drogen handeln, zu Spottlöhnen arbeiten etc.; er klagt, dass er Angst habe, dass er seiner Rechte beraubt werde und seiner Menschenwürde; anschließend stellt er fest, dass sie „weggehen müssen“, dass man sich auflehnen müsse und dass man unbedingt „etwas unternehmen müsse“ gegen diese TÄTER, da die derzeitige Situation unerträglich sei.
Dieses argumentative Profil, in welchem der erste opening stage („ich bin kein Rassist, aber“) mit dem abschließenden stage in Widerspruch steht („es wird Zeit, dass sie wieder dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind“), zwingt das argumentierende Subjekt, gegen das logische Prinzip des Nicht-Widerspruchs zu verstoßen: Die Aussage des sich derart widersprechenden Subjekts lautet also etwa „Ich bin kein Rassist, aber ich bin Rassist“ (Beispielsweise mit Oliver Welke aus der Heute-show vom 28.11.2014 gesprochen: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber… doch!“) .
Das argumentierende Subjekt gesteht diese contradictio in adiecto in der digitalen Kommunikationssituation jedoch nicht ein. Argumente wie „Sie machen mir Angst“ oder „Habt ihr je erlebt, was es heißt, mit den Roma zusammenzuleben?“ machen dabei den offensichtlichen Widerspruch akzeptabel und ermöglichen Aussagen wie „Bin ich deswegen etwa ein Rassist?“.

Deutliche Unterschiede in der argumentativen Profilzusammenstellung ergeben sich dadurch, dass sowohl im Französischen als auch im Italienischen zwei (oben erwähnte) unterschiedliche Strategien zur Legitimierung der so eingeforderten „Gerechtigkeit“ angewandt werden: die Strategie der Selbstverteidigung und die Strategie der Rettung.
Die Selbstverteidigung, die rein quantitativ betrachtet öfter auftritt, unterscheidet sich im Aufbau des Sprechakts von der Rettung dadurch, dass das (sprechende) OPFER sich mit dem RETTER identifiziert und gewissermaßen zwei Rollen beansprucht: „Je ne suis pas raciste, je défends les Français“ behauptet Marine Le Pen. Bei der Rettung dagegen „ist das Opfer eine dritte Person“, was bedeuten soll, dass das Opfer nur eine Rolle inszeniert: Es ruft um Hilfe. (Lakoff/Wehling 2014: 136).

Die Argumentation, welche die Selbstverteidigung rechtfertigen soll, verläuft in der Regel auf der Grundlage eines logisch-argumentativen Musters, dem man nicht widersprechen kann: Wenn man zum Opfer wird, dann hat man das Recht, sich zu verteidigen. Das Opfer stellt eine kausale Beziehung zwischen dem Verhalten des „Bösen“ und der eigenen Situation her. Das versetzt es in die Lage, behaupten zu können, die eigene schmerzhafte Situation werde durch das Handeln des „Bösen“ verursacht. Das Opfer befindet sich gegenüber dem „Bösen“ also in einer Position der (moralischen) Überlegenheit. Die Argumentation dient dazu, eine Form der „Gerechtigkeit“ zu beschwören, deren oberster Grundsatz lautet, dass der Mensch das Recht habe, sich gegen den eigenen Opferstatus zur Wehr zu setzen. „Und nur ein Sieg des Guten über das Böse kann die Gerechtigkeit in der Welt wiederherstellen, indem es die Ungerechtigkeit, die dem Opfer wiederherzustellen ist, ausgleicht“ (Lakoff/Wehling 2014: 136).
Die Argumentation, welche die Rettung rechtfertigen soll, verläuft hingegen auf der Grundlage des logisch-argumentativen Musters Wenn jemand Opfer eines bösen Täters wird, dann muss man das Opfer retten. Das Opfer stellt einen Vergleich her zwischen dem eigenen Verhalten, das stets tadellos war, und dem des Täters, das immer destruktiv war, um so das eigene Verhalten als das moralisch bessere darzustellen („Wir arbeiten hart, sparen, und die nehmen uns alles weg“). Der locus comparationis zwischen der Natur des Guten und der Natur des Bösen gestattet es, den Hilferuf an einen Retter zu rechtfertigen, der das Opfer aus seiner Lage befreien und retten möge, da es zu schwach ist, sich selbst zu retten. Die Argumentation dient dazu, eine Form der Gerechtigkeit zu etablieren, deren oberster Grundsatz lautet, dass der Mensch die Pflicht habe, den Schwächeren beizustehen, also gegen den Täter einzuschreiten, um das Opfer zu retten.

Angesichts dieser (argumentationstheoretisch fundierten) Beobachtungen setzt sich die Konferenz das Ziel, zum einen die Kenntnisse von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen – Linguisten, Literaturwissenschaftlern, Soziologen sowie Politologen, Theologen und Psychologen –, die mit der behandelten Thematik der Diskriminierung vertraut sind, zu sammeln, zu vergleichen und miteinander zu vernetzen. Zum anderen sollen die das „Märchendreieck“ konkret betreffenden Aspekte an die methodologische Reflexion sowie an die theoretische Forschung der jeweiligen Disziplin angeknüpft werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei jedoch nicht nur auf den sprachlichen Mitteln, die zur Problematik des „Märchendreiecks“ gezählt werden und damit zum Grundstock der Ausdrucksmöglichkeiten in den verschiedenen Disziplinen gehören. Insbesondere wird nachgefragt, ob und inwiefern sich domänenspezifische Besonderheiten im Märchendreieck (TÄTER – OPFERRETTER) feststellen lassen, die Aufschluss geben können über die Rolle und den Status eines mentalen kulturellen Modells, das Rassismus und Diskriminierung eindeutig fördert. Denn „the limits of our models are the limit of our world“ (P.N. Johnson-Laird 1989: 470f.).

Literatur

van Eemeren, Frans H./Houtlosser, Peter/Snoeck Henkemans, A. Francisca (2008): „Dialectical profiles and indicators of argumentative moves“, in: Journal of Pragmatics 40, S. 475–493.
van Eemeren, Frans H./Grootendorst, Rob (2014): A Systematic Theory of Argumentation. The pragma-dialectical approach, Cambridge: Cambridge University Press.
Johnson-Laird, P.N. (1989): „Mental models“, in: M. L. Posner (Hrsg.): Foundations of Cognitive Science, Cambridge, MA: MIT Press, S. 469-499.
Karpman, Stephen (1968): „Fairy tales and script drama analysis“, in: Transactional Analysis Bulletin, 7 (26), S. 39-43.
Lakoff, George/Wehling, Elisabeth (2014): Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg: Carl Auer Verlag.
Lakoff. George (2004): Don’t Think of an Elephant: Know Your Values and Frame the Debate. Chelsea Green Publishing.
Lewińsky, Marcin (2010): Internet political discussion forums as an argumentative activity type: A pragma-dialectical analysis of online forms of strategic manoeuvring in reacting critically, Amsterdam: Rozenberg Publishers.

Informationen für Beiträger

Vorschläge für Beiträge bitte an: daniela.pirazzini@uni-bonn.de – Deadline: 15.Juni 2015
max. 500 Wörter, MS-Word-Format, zzgl. Kontaktinformationen, akademischer Vita und Bibliographie.
Die Beiträge selbst sollten auf ca. 20 Minuten ausgelegt sein.
Bitte beachten Sie: Die Tagung findet nur statt, wenn die entsprechenden Mittel erfolgreich eingeworben werden können.
Der Antrag läuft. Eine Veröffentlichung der Beiträge wird angestrebt.

Kontakt:
Prof. Dr. Daniela Pirazzini
Universität Bonn
Institut VII / Abt. f. Romanistik
Am Hof 1
53113 Bonn
daniela.pirazzini@uni-bonn.de

Beitrag von: Daniela Pirazzini

Redaktion: Lars Schneider