Stadt: Paris, Frankreich

Frist: 2016-03-13

Beginn: 2016-04-29

Ende: 2016-04-29

URL: https://trajectoires.revues.org/

Der Exzess ist allgegenwärtig. Es ist in der Tat kaum zu übersehen, dass sich die westliche Welt durch Überfluss auszeichnet. Die Konsumgesellschaft erfindet täglich neue Produkte und Bedürfnisse, die Datenströme sind kaum noch zu kanalisieren, die Abfallberge werden höher und höher, und mit ihnen nimmt die Umweltverschmutzung unaufhaltsam zu. Das ökonomische Wachstum scheint ein Dogma und ein Versprechen zugleich zu sein, das – auf professioneller, finanzieller oder persönlicher Ebene – mit dem Primat der Leistung einhergeht, und das Erfolg an der Fähigkeit bemisst, sich immer wieder selbst zu übertreffen. Der Betriebschef wird zu steigender Rentabilität angehalten, der Wissenschaftler zu unausgesetzter Veröffentlichung seiner Ergebnisse, der Sportler zu immer neuen Höchstleistungen. Zugleich wird der Protest gegen die Allgegenwart der Exzesse immer vernehmlicher: er richtet sich gegen das Prinzip permanenter Wertsteigerung, gegen die Auswüchse des Massenkonsums, gegen Alkohol- und Drogengelage ebenso wie gegen alltäglichere Phänomene, etwa Geschwindigkeitsüberschreitungen und Übergewicht – mit all den verheerenden Folgen, die diese für Leib und Leben haben können. Im Fahrwasser dieser Kritik entstehen neue Trends, oft mit den Adjektiven „slow“ oder „nachhaltig“ versehen, die auf weitestreichende Mäßigung, wenn nicht auf die Umkehr von Wachstumsprozessen und auf künstliche Verknappung drängen. Aber gebieten diese Trends den angeprangerten Exzessen tatsächlich Einhalt oder übersetzen sie diese nicht vielmehr in andere, ebenfalls exzessiv betriebene Formen von Verzicht und Selbstkontrolle?

Scheint die Maßlosigkeit unseren westlichen Lebensstil auch zu kennzeichnen, so ist sie dennoch nicht an die Jetztzeit gebunden. Soweit die Geschichte zurückreicht, wähnten sich die Vertreter unterschiedlichster Epochen Zeugen eines von Exzessen durchzogenen Zeitalters, von der Antike bis in die Moderne. Ausgehend von der Überzeugung, dass Maß und Maßlosigkeit Konstruktionen sind, mithilfe derer wir die Werte, Befindlichkeiten und Normen vergangener Zeiten eruieren können, möchten wir in der 10. Ausgabe von Trajectoires den Exzess aus der Perspektive der Geistes- und Sozialwissenschaften in Vergangenheit und Gegenwart beleuchten. Der Exzess soll dabei auf theoretischer, epistemologischer, ästhetischer und empirischer Ebene analysiert werden, um seine wesentlichen Strukturmerkmale ebenso zu erfassen wie seine situativen Einschreibungen in einen spezifischen Kontext. Darüber hinaus sollen auch die Verfahren und Dispositive in den Blick genommen werden, die zur Kontrolle oder Unterdrückung der als exzessiv ausgewiesenen Praktiken herangezogen wurden. Das Themendossier setzt sich also zum Ziel, einerseits die verschiedenen Definitionen, Aneignungen und Strukturen des Exzesses aufzuzeigen, und andererseits die Reaktionen und Bewältigungsstrategien seitens der öffentlichen Gewalt, des Rechts, aber auch der betroffenen Individuen aus einer interdisziplinären Perspektive zu analysieren.

Der Exzess kann als das Überschreiten einer Grenze verstanden werden, die gemeinhin als „normal“ und „normativ“ angesehen wird, weswegen er in der Regel negativ konnotiert ist. Ihm ist allerdings insofern eine soziale Funktion eingeschrieben, als er maßgeblich an der Konstruktion, aber auch an der Reaktualisierung von kollektiven und individuellen Normen beteiligt ist – ohne dass er deshalb auf den bloßen Akt der Grenzüberschreitung reduziert werden könnte. Der Exzess ist in erster Linie eine Fremdzuschreibung – ist es doch eher unüblich, dass die Beteiligten ihr Tun selbst als exzessiv beschreiben. Ein Verhalten wird in aller Regel dann als exzessiv kritisiert, wenn einer Handlung unterstellt wird, sie unterlaufe oder zersetze gängige Norm- und Wertvorstellungen. Das subversive Potential des Exzesses kann allerdings auch als bewusste Provokation oder Auflehnung eingesetzt werden, wenn die Akteure sich seiner bedienen, um gültige Wertvorstellungen und Normen explizit wie implizit in Frage zu stellen.

Zieht sich der Exzess durch alle Zeiten, so können dennoch Momente der „Verdichtung“ oder „Beschleunigung“ ausgemacht werden, etwa in revolutionären Umbrüchen oder in einzelnen Epochen, in denen die Anhäufung des Details zum ästhetischen Prinzip erhoben wird – etwa in der Kunst des Barock, im Eklektizismus der Architektur des 19. Jahrhunderts oder auch in der Literatur des Fin-de-siècle. Die Beispiele verweisen bereits auf ein breites Untersuchungsspektrum des Phänomens: der Exzess kann aus nahezu allen Perspektiven der Geistes- und Sozialwissenschaften (Geschichte, Recht, Politik, Soziologie, Kunst…) untersucht werden, nicht zuletzt infolge seiner Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung von gesellschaftlichen Normvorstellungen.

Die Dichotomie von Ordnung und Exzess erlaubt es damit gleichermaßen, Themen wie Gewalt, Krieg und Völkermord in den Blick zu nehmen wie Fragen von Konsum und Wohlstandskultur oder auch der Sexualmoral, deren Normen und Überschreitungen sich an jeweils zeitspezifische, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Kontexte zurückbinden lassen. In all diesen Fragen klingt zudem insofern eine soziologische Kernproblematik an, als dem Exzess auch eine schichtspezifische Logik zu eigen sein scheint – nehmen die Vertreter der höheren Klassen doch für sich zuweilen ein Recht auf exzessives Verhalten in Anspruch, das den niederen Schichten verwehrt wird. Das Verhältnis zu Maß und Maßlosigkeit ist also nicht ohne Einfluss auf die Position und das Selbstverständnis des Einzelnen im sozialen Gefüge, weswegen der Exzess auch auf religiöse und politische Gesellschaftsentwürfe zurückwirkt. Diese können die Form von Appellen zur Mäßigung annehmen und bis zur Ausbildung von Extremismen und Fanatismen reichen, von denen die autoritären und totalitären Regime des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrem Unterdrückungsapparat und der unbedingten Pflicht zum Gehorsam zeugen.

Ebenso wie die Sozialwissenschaften die Konstruktion von Normen sowie, aus juristischer Perspektive, deren legale Rahmung und Praxis im Rechtssystem erhellen, setzen sich die Geisteswissenschaften mit den normativen Aspekten des Exzesses in der Gesellschaft auseinander: Linguistik und Kommunikationswissenschaften ermöglichen eine Analyse der Diskursstrukturen und der sprachlich vermittelten Konstruktion des Exzesses, während Literatur-, Theater- und Filmwissenschaften verstärkt auf theoretische und empirische Aspekte seiner Inszenierung oder seiner ästhetischen Umsetzung abheben (Reihung, Übertreibung, Steigerung, Verstärkung…, um nur einige der möglichen Verfahren zu benennen). In der Philosophie schließlich wird der Exzess herangezogen, um die Natur des Menschen und seine Beziehungen zu der Umwelt zu ergründen: Von der aristotelischen Ethik der Mäßigung über Friedrich Nietzsche bis hin zu Georges Bataille und Michel Foucault haben Philosophen aller Epochen die Fragen von Maß und Maßlosigkeit problematisiert.

Für das Dossier thématique scheinen uns drei analytische Zugänge besonders einschlägig, die allerdings keinen Anspruch auf eine erschöpfende Erfassung des Themas erheben:

1) die Konstruktion des Exzesses: In diesem Rahmen soll der Exzess in seinen verschiedenen und sich wandelnden Bedeutungen erfasst werden, unter gleichzeitiger Berücksichtigung dessen, was möglicherweise seine Besonderheit ausmacht, nämlich die Verbindung von quantitativer Bemessung (in diesem Falle ein „Zuviel“) und moralischer Beurteilung. Anders als die Übertretung scheint der Exzess an ein Maß und, mehr noch, an die grundsätzlich mögliche Messbarkeit gebunden zu sein. Ferner soll in dieser Achse die Art und Weise untersucht werden, in der verschiedene soziale Akteure den Exzess für sich vereinnahmen. Die rechtlichen, politischen und sozialen Prozesse, welche normative Verbindlichkeiten festlegen, definieren im Umkehrschluss auch die sozialen Verfehlungen und Tabus. In gleicher Weise reagieren moralische Autoritäten – Kirchen, aber auch Intellektuelle oder politische Parteien – auf Exzesse mit der Formulierung entgegengesetzter Wertvorstellungen, die ihrerseits Rückschlüsse auf den Erwartungshorizont ihrer jeweiligen Zeit erlauben.

2) die Praxis des Exzesses: Diese Achse thematisiert konkrete Praktiken, die zu einer bestimmten Zeit (oder im Nachhinein) als exzessiv bewertet werden, und an denen gezeigt werden kann, wie der Exzess auf bestehende Normen zurückwirkt. Wurden beispielsweise in vergangenen Zeiten Wohlstand und Freigiebigkeit an Prasserei und am Überfluss von Nahrungsmitteln festgemacht, so werden diese heute aus Gründen der Verschwendung, ungesunder Ernährung und Junkfood als exzessiv abgelehnt. Andere Phänomene wie der Hooliganismus bieten sich ebenfalls für eine Untersuchung des Exzesses mit Blick auf die Verletzung von Normen und der Konstruktion von Protestidentitäten an.

3) die Repräsentation des Exzesses: Schließlich sollen die Darstellungsverfahren des Exzesses in den Blick genommen werden, sei es in literarischer, bildlicher, musikalischer, audiovisueller oder theatralischer Form. Von Gargantua bis zum zeitgenössischen Tanz haben sich Künstler sämtlicher Epochen um – normenbestätigende wie normenzersetzende – Darstellungsformen des Exzesses bemüht. Die Frage der Repräsentation lädt darüber hinaus zu einer Infragestellung der aktuellen Muster der Selbstverwirklichung ein, die durch die westlichen Gesellschaften vorgegeben werden und auf das Primat der Leistung fokussiert scheinen. Tatsächlich verschiebt der Leistungsdruck die Koordinaten des Exzessiven, ohne diese allerdings jemals zum Verschwinden zu bringen. Folglich werden in dieser Achse Vorstellungen und Darstellungen des Exzesses auf ihre historische Entwicklung befragt, um die Normen der jeweiligen Zeit auszuloten und zugleich die Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft aufzuzeigen, in denen zu beharrlicher Leistungssteigerung aufgerufen, das Überschreiten bestehender Normen aber zugleich geahndet wird.

Der Call for articles für das Themendossier der 10. Ausgabe von Trajectoires richtet sich an Nachwuchswissenschaftler/innen (Doktoranden, Post-Doktoranden und eventuell Master-Studenten) aus allen Geistes- und Sozialwissenschaften, die den Exzess in einer interdisziplinären Perspektive untersuchen. Wir begrüßen insbesondere Beiträge, die eine Konzeptualisierung oder Definition des Exzesses auf der Grundlage von Fallbeispielen oder von empirischen, theoretischen oder literarischen Quellen vornehmen. Wir freuen uns zudem über vergleichende Untersuchungen aus dem deutsch- und französischsprachigen Raum. Die Artikelvorschläge in französischer oder deutscher Sprache (nicht länger als 5000 Zeichen, inkl. Leerzeichen) sollten die Fragestellung, die Methode, den Quellenkorpus bzw. das Terrain, den deutsch-französischen Bezug und die zentralen Argumente deutlich machen.

Wir bitten um Zusendung der Vorschläge und eines akademischen Lebenslaufs bis zum 13. März 2016 an die Redaktion (trajectoires@ciera.fr). Die ausgewählten Beiträger werden Ende März benachrichtigt; der Abgabetermin für die Artikel ist der 1. Juni 2016. Die Beiträge werden anschließend in einem doppelten Peer-Review begutachtet. Weiterführende Informationen sind auf der Homepage von Trajectoires verfügbar: http://trajectoires.revues.org.

Ein dem Exzess gewidmeter Workshop wird am 29. April 2016 in Paris stattfinden. Alle zukünftigen Autoren haben dort die Möglichkeit, ihren geplanten Beitrag vorzustellen. Die Reisekosten werden pauschal erstattet. Die Teilnahme an der Tagung ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Veröffentlichung eines Artikels im Themendossier. Wir danken aber allen potenziellen Autoren dafür, sich dieses Datum nach Möglichkeit freizuhalten.

Beitrag von: Anne Seitz

Redaktion: Christof Schöch