Stadt: Paris

Frist: 2018-03-31

URL: http://journals.openedition.org/trajectoires/

Als Erholungsorte und Ausflugsziele für Städter, Quelle von Emotionen und Träumen „erwachsener“ Kinder, spielen Naturgebiete eine wichtige soziale Rolle (Reeh 2008), die ihrerseits auf einer über Jahrhunderte hinweg gewachsenen kulturellen und symbolischen Tradition fußt. Den Ursprung unseres heutigen Naturverständnisses verortet der Anthropologe Philippe Descola im frühen 16. Jahrhundert: In seiner Untersuchung Jenseits von Natur und Kultur (2005) arbeitet er die Besonderheiten der abendländischen Weltanschauung heraus, die – so Descola – auf einer dichotomischen Trennung zwischen Natur und Kultur beruht. Das 19. und 20. Jahrhundert sind ihrerseits von einer Entwicklung geprägt, die breite Teile der Bevölkerung von einer Wertschätzung idyllischer Landschaften und einer vom Menschen bestellten und beherrschten Landschaft hin zur einer zunehmenden Wertschätzung von „wilden“ Landschaften geführt hat (Luginbühl 2012). Dieser Mentalitätswandel veranlasste den amerikanischen Historiker William Cronon zu einer postmodernen Kritik des Begriffs der wilderness und der damit einhergehenden Vorstellung einer „wilden“ Natur. Cronon zufolge ist das Streben nach Wildnis eine Selbsttäuschung, denn sie beruht auf der Vorstellung, dass die Natur, um denn „natürlich“ zu sein, unangetastet und in ihrem Urzustand geblieben sein muss, und setzt somit den impliziten Dualismus eines vollständig von der Natur getrennten Menschen voraus. Die daraus folgende Idealisierung von Naturgebieten , die in der Regel fernab von menschlichen Siedlungsräumen gelegen und somit nur schwer erreichbar sind, trägt laut Cronon nur zur weiteren Trennung von Mensch und Natur bei und macht die Ausbeutung der unmittelbaren Umwelt insofern akzeptabel, als andernorts heile Schutzgebiete existieren bzw. imaginiert werden (Cronon 1995).

Scheint der Naturbegriff sich in jüngster Zeit von der Konzentration auf herausragende Naturmerkmale, emblematische Tierarten oder angeblich jungfräuliche Gebiete, zu lösen – etwa durch die neue Wertschätzung der „gewöhnlichen“ Natur (Bätzing 2000) – so ist der Wille zur Bewahrung, manchmal gar zur Rehabilitierung einer „wilden“ Natur in den westlichen Gesellschaften immer noch sehr präsent. Dieser Wille tritt zum Beispiel in der Arbeit von Vereinen für den Umweltschutz zu Tage, aber auch in staatlichen und politischen Diskursen (Barraud und Périgord 2013). Der Sinn für Dramaturgie und Inszenierung scheint dabei zunehmend zu der intellektuellen Ausstattung des öffentlichen Verwaltungspersonals zu gehören, dem es zur Formulierung von praktischen Empfehlung zur Landschaftsplanung dient. Am Beispiel der französischen Wälder hat Benoît Boutefeu (2007) gezeigt, dass die Natur für die Angestellten der nationalen Forstbehörde (Office national des forêts) nicht mehr ausschließlich einen zu pflegenden und zu nutzenden Rohstoff darstellt; sie ist auch ein Ort der Inszenierung von regelrechten Waldtheatern, in denen Besucher dem „Schauspiel“ der Natur beiwohnen können. Inmitten des wäldlichen Dekors erfinden und spielen die Besucher ihre eigenen Theaterstücke, in denen persönliche Überzeugungen sich mit universellen Archetypen vermengen (Boutefeu 2007).

Allgemeiner gesprochen kann ein wachsender Einfluss von Akteuren wie Landschaftsgärtnern und Städteplanern, die den expliziten Auftrag haben, die Natur zu „inszenieren“, beobachtet werden. Dieser Inszenierungsauftrag beschränkt sich jedoch nicht auf spezifische Berufsgruppen – jedes Individuum hat im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten das Potential, Teil von Naturinszenierungsprozessen zu werden. An dieser Stelle möchte das Themenheft von Trajectoires ansetzen. Durch die Zusammenführung der Begriffe „Natur“ und „Inszenierung“ entsteht ein Spannungsfeld, in dem anhand von konkreten Inszenierungsphänomenen sowohl die Naturvorstellungen und –darstellungen als auch der ihnen zugrundeliegende Naturbegriff befragt werden können. Was verrät die jeweilige Naturinszenierung über das Verhältnis des Menschen zur Natur?

In der Definition, die ihm der Bühnenleiter André Antoine Ende des 19. Jahrhunderts gab, verweist der Begriff der Inszenierung auf die enge Verflechtung der materiellen und immateriellen Elemente der Darstellung. Sie umfasst sowohl das Bühnenbild, die Positionierungen, Bewegungen und Ausdrucksweisen der Darsteller, als auch die eigentliche Werkdeutung. Der Begriff, der ursprünglich der Welt des Theaters, Films und Fernsehens entstammt, wurde von den Geistes- und Sozialwissenschaften aufgegriffen und zur Analyse unterschiedlicher Phänomene angewandt. In der Soziologie fand die dramaturgische Metapher etwa mit der Analyse von direkten Interaktionen innerhalb „totaler Anstalten“ weite Verbreitung (Goffman, 1959) und wurde im Anschluss daran auch in anderen Bereichen angewandt, vor allem für die Erforschung sozialer Bewegungen (Briscoe et al., 2015; Nassauer, 2015; Olsen, 2014).

Auf die Frage der Natur bezogen ermöglicht der Begriff der Inszenierung eine Vielzahl von analytischen Blickwinkeln. In der Geographie kann die Konstruktion des Raums und das Verhältnis zwischen Inszenierung und Räumlichkeit untersucht werden. Die Geopolitik interessiert sich etwa für die politische Tragweite der Inszenierung von Territorien (C. da Costa, Gomes et Fort-Jacques, 2010). Der Geograph Georges Bertrand betrachtet Landschaften als eine gesellschaftliche Interpretation. Ausgehend von einem wirtschaftlichen und kulturellen Produktionssystem, einem materiellen Objekt, das unabhängig von seinem Betrachter existiert, untersucht Bertrand „landschaftliche Szenarien“, die auf der Regel der drei Einheiten (Ort, Zeit und Handlung) aufbauen (Bertrand, 1978). In der Linguistik leitet das Konzept der „enunziativen Inszenierung“ (Vion, 1998) dazu an, die Vielzahl der Stimmen zu analysieren, die jeden Diskurs durchziehen, sowie die Positionsänderungen des Subjekts in polyphonen Texten. Städteplaner untersuchen die Anordnungstechniken städtischer Elemente (Beleuchtung, Möbel, Transportmöglichkeiten, Bepflanzung, usw.), indem sie die jeweilige Morphologie und die Nutzung der Orte in den Blick nehmen (Pradel, 2007; Chilla, 2005). Kunsthistoriker interessieren sich für die diversen Darstellungen der Natur in Stillleben, Landschaftsmalereien und Allegorien. In der Archäologie nutzen Forscher Filmtechniken, um die Darstellung von Tieren in der Felsmalerei zu analysieren (Azéma 2012). Die verschiedensten Elemente der Natur können als inszenierte Bestandteile einer Aufführung fungieren, so beispielsweise auffällige Bäume (Arnould et Cieslak 2004), Zäune um Tiergehege im Zoo (Baratay 2004; Estebanez 2010), der „exotische“ Körper des Anderen (Staszak 2008) oder sogar die Jahreszeiten selbst (Osty 1993).

Der Begriff der Inszenierung wirft die Frage nach dem Umgang mit Zeit und Raum, nach der Funktion der variablen Distanzierung und nach der Rolle von Positionen und Gesten auf (Pessis, 1987). Wenn die Natur inszeniert werden kann, wer sind dann in diesem Prozess die Schauspieler, die Regisseure, die Zuschauer? Welche Szenarien werden gespielt? Verschiedene Disziplinen müssen herangezogen werden, um die Regeln zu entschlüsseln, die dem Schreiben und Interpretieren dieser Szenarien, der Rollenverteilung zwischen Hauptdarstellern und Statisten und der Festlegung von Zeit, Raum und Handlung zugrunde liegen. Die zu untersuchenden Inszenierungsprozesse schließen ästhetische, psycho-affektive und politisch-mediale Dimensionen ein. Für das Themenheft von Trajectoires zum Thema „Naturinszenierungen“ scheinen uns folgende analytische Zugänge besonders einschlägig, die allerdings nur mögliche Ansätze darstellen und keinesfalls Anspruch auf eine erschöpfende Erfassung des Themas erheben:

1. Das Spiel mit Zeit und Raum und die Errichtung von Distanz

Jede Inszenierung setzt ein Szenario voraus, das sich in der Zeit und im Raum entfaltet. Wir interessieren uns für Ansätze, die die verschiedenen Zeit-Raum-Modalitäten der Natur in den Fokus nehmen. In diesem Zusammenhang kann etwa gefragt werden, auf welche Art die Inszenierung der Natur sich im Raum ansiedelt und welche Rolle die Zeitlichkeit dabei spielt. Wie kann die konkrete räumliche Verankerung der Naturinszenierung (Städte, Berge, Landschaften, Meere, Küsten, usw.) beschrieben werden? Und inwiefern variiert diese räumliche Verankerung je nach Epoche? Welche Naturelemente werden in unterschiedlichen historischen und geographischen Zusammenhängen ausgewählt? Jede Inszenierung setzt darüber hinaus eine spezifische Beziehung zwischen der Bühne und dem Zuschauer voraus. Daher stellt sich die Frage nach der Abgrenzung in den räumlichen Anordnungen, die in jeder Szene anders gelagert sind. Wo liegen in dieser Perspektive die Grenzen zwischen Betrachter und Betrachtetem? Können diese Grenzen überschritten werden, und wenn ja, in welcher Form?

2. Die Analyse von Positionen und Gesten

Des weiteren kann davon ausgegangen werden, dass jede Inszenierung auch Interaktionen und ein Kommunikationssystem voraussetzt. Wie positionieren und bewegen sich die Inszenierenden und Inszenierten in einem Naturschauspiel? Dabei weist die Geste, neben dem Aspekt der Bewegung, auch auf ein Verhalten gegenüber der Inszenierung hin (die Geste eines Landschaftsarchitekten, der den Raum gestaltet, die Geste des Gärtners der seine Umwelt modelliert, die Geste eines Zirkustiers, das dem Dompteur gehorcht, die schöpfende Geste). Was offenbart die Inszenierung über die Beziehung des Menschen zur Natur?

Fristen und Modalitäten

Der vorliegende Beitragsaufruf für das Themenheft der Zeitschrift Trajectoires richtet sich an Nachwuchsforschende (DoktorandInnen, PostDocs und ggfs. Masterstudierende) der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften; er lädt zur Bearbeitung des Themas „Naturinszenierungen“ in interdisziplinärer Perspektive ein. Arbeiten, die sich Naturinszenierungen auf einer empirischen Grundlage nähern, sind besonders willkommen. Da Trajectoires sich vor allem der Erforschung des deutsch- und französischsprachigen Raums widmet, begrüßen wir insbesondere vergleichende Ansätze, freuen uns aber über alle Vorschläge, die die erwünschte deutsch-französische Dimension über das Thema, das Untersuchungsfeld oder auch die theoretische und bibliografische Einordnung herstellen.

Beitragsvorschläge können auf Deutsch oder Französisch verfasst werden (max. 5000 Zeichen inkl. Leerzeichen) und sollen die Fragestellung, die gewählte Methode, die Quellen und den Gegenstand ebenso klar benennen, wie die Kernelemente der Argumentation und den deutsch-französischen Bezug. Wir bitten um Zusendung der Beitragsvorschläge zusammen mit einem wissenschaftlichen Lebenslauf in einem PDF-Dokument bis zum 31. März 2018 an folgende Adresse: trajectoires@ciera.fr.

Die ausgewählten AutorInnen werden Mitte April informiert und anschließend gebeten, ihren fertigen Text (max. 25 000 Zeichen inkl. Leerzeichen) bis zum 4. Juni 2018 einzureichen. Die Artikel unterliegen anschließend einem zweifachen peer review-Verfahren und werden nach erfolgreicher Begutachtung Ende 2018 veröffentlicht. Weitere Informationen für interessierte AutorInnen befinden sich auf der Homepage von Trajectoires: http://journals.openedition.org/trajectoires/

Ein Workshop zum Thema „Naturinszenierungen“ wird am Samstag, den 5. Mai 2018 in Paris stattfinden. Die AutorInnen erhalten im Rahmen dieses Workshops die Möglichkeit, ihren geplanten Beitrag für Trajectoires vorstellen. Die Reisekosten werden pauschal erstattet. Die Teilnahme an diesem Workshop ist weder notwendig noch ausreichend, um einen Artikel im Themenheft von Trajectoires zu publizieren. Den interessierten AutorInnen danken wir jedoch im Voraus dafür, dass sie sich – nach Möglichkeit – das Datum des Workshops freihalten.

Bibliografische Hinweise

Arnould, Paul, Cieslak Caroline (2004), « Mise en scène d’objets de nature à Paris et Varsovie : les arbres remarquables de deux forêts périurbaines », in Natures Sciences Sociétés 12/2, pp. 157–171.

Azéma, Marc (2012), « L’animation dans l’art paléolithique », in Jean Clottes (ed.), L’art pléistocène dans le monde. Pleistocene art of the world / Arte pleistoceno en el mundo : Actes du Congrès IFRAO, Tarascon-sur-Ariège, septembre 2010 – Symposium Art pleistocène en Europe, pp. 57–73.

Baratay, Éric (2004), « Le frisson sauvage : les zoos comme mise en scène de la curiosité », in Zoos humains. Au temps des exhibitions humaines. Paris, La Découverte, pp. 31–37.

Barraud, Régis, Périgord, Michel (2013), « L’Europe ensauvagée : émergence d’une nouvelle forme de patrimonialisation de la nature ? », in L’Espace géographique 42/3, pp. 254–269.

Bätzing, Werner (2000), « Postmoderne Ästhetisierung von Natur versus « schöne Landschaft » als Ganzheitserfahrung – von der Kompensation der « Einheit der Natur » zur Inszenierung von Natur als Erlebnis », in Hegel-Jahrbuch 1, pp. 196–201.

Benjamin, Pradel (2007), « Mettre en scène et mettre en intrigue : un urbanisme festif des espaces publics », in Géocarrefour 82/3, pp. 123–130.

Bertrand, Georges (1978), « Le paysage entre la Nature et la Société », in Revue géographique des Pyrénées et du Sud-Ouest 49/2, pp. 239–258.

Böhme, Gernot (1989), Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Boutefeu, Benoît (2007), La forêt comme un théâtre ou les conditions d’une mise en scène réussie, Thèse de doctorat en Géographie. Ecole normale supérieure Lettres et Sciences Humaines – ENS-LSH Lyon.

Briscoe, Forrest, Abhinav, Gupta, Anner, Mark S. (2015), « Social Activism and Practice Diffusion: How Activist Tactics Affect Non-Targeted Organizations », in Administrative Science Quarterly 60/2, pp. 300–332.

C. da Costa Gomes, Paulo, Fort-Jacques, Théo (2010), « Spatialité et portée politique d’une mise en scène », in Géographie et cultures 73, pp. 7–22.

Chilla, Tobias (2005), « Stadt und Natur. Dichotomie, Kontinuum, soziale Konstruktion? », Raumforschung und Raumordnung, 63/3, pp. 179–188.

Cronon, William (1995), « The Trouble with Wilderness; or, Getting Back to the Wrong Nature », in William Cronon (ed.), Uncommon Ground: Rethinking the Human Place in Nature, New York, W. W. Norton & Co., pp. 69–90.

Descola, Philippe (2005), Par-delà nature et culture, Paris, Gallimard.

Estebanez, Jean (2010), « Le zoo comme dispositif spatial : mise en scène du monde et de la juste distance entre l’humain et l’animal », in L’Espace géographique 39/2, pp. 172–179.

Goffman, Erving (1992), La mise en scène de la vie quotidienne, Paris, Editions de minuit.

Goffman, Erving (1959), Wir alle spielen Theater, München, Piper.

Jannsen, Gert, Strassel, J. (1997), Neuere Naturinszenierungen. Ein Studienprojekt, Oldenburg, AGIS Texte.

Luginbühl, Yves (2012), La mise en scène du monde : construction du paysage européen, Paris, CNRS éditions.

Mathis, Charles-François, Pépy, Emilie-Anne (2017), La ville végétale : Une histoire de la nature en milieu urbain (France, XVIIe-XXIe siècle), Paris, Champs Vallon.

Nassauer, Anne (2015), « Theoretische Überlegungen zur Entstehung von Gewalt in Protesten: Eine situative mechanismische Erklärung », in Berliner Journal für Soziologie 25(4), pp. 491–518.

Olsen, Kristine A. (2014), « Telling Our Stories: Narrative and Framing in the Movement for Same-Sex Marriage », in Social Movement Studies 13(2), pp. 248–66.

Osty, Jacqueline (1993), « Une machinerie du paysage : la mise en scène des saisons dans la ville », in Annales de la Recherche Urbaine 61, pp. 133–136.

Reeh, Tobias (2008), Natur erleben und Raum inszenieren,Universitätsverlag Göttingen.

Staszak Jean-François (2008), « Danse exotique, danse érotique. Perspectives géographiques sur la mise en scène du corps de l’Autre (XVIIIe-XXIe siècles) », in Annales de géographie 660–661, pp. 129–158.

Vion, Robert (1998), « La mise en scène énonciative du discours », in Caron B. (dir.), Proceedings of the 16th International Congress of Linguists, Oxford, Elsevier Sciences, CDROM.

Walter, François (2004), Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (16e-20e siècle), Paris, EHESS, 2004.

Beitrag von: Lucia Aschauer

Redaktion: Christof Schöch