Stadt: Mannheim

Frist: 2015-01-15

Beginn: 2015-07-26

Ende: 2015-07-29

URL: http://www.romanistentag.de/

Sektionsleitung:
Tina Ambrosch-Baroua (LMU, München); Amina Kropp (Universität Mannheim)

Aus globaler wie historischer Perspektive stellt Mehrsprachigkeit nicht den Ausnahmezustand, sondern den Normalfall dar (vgl. z.B. Tracy 2007; Lüdi 1996; Kremnitz 1990 oder auch Wandruszkas 1979 Konzept des ‘muttersprachlich mehrsprachigen Menschen’). Zugleich unterliegen Mehrsprachigkeit und Spracherwerb in vielerlei Hinsicht ökonomischen Prinzipien: Je nach Größe der Sprechergruppe und den (wirtschaftlichen) Machtverhältnissen besitzen Sprachen in einer Gesellschaft einen bestimmten Markt- und Prestigewert und werden unterschiedlich stark angeboten und nachgefragt. Ökonomische Faktoren schlagen sich zudem nicht nur in Sprachwertsystemen nieder, sondern beeinflussen unmittelbar auch Produktion und Entstehungskontext materieller auf Mehrsprachigkeit und Spracherwerb ausgerichteter Güter wie etwa Sprachlehrwerke und Übersetzungen. Dies gilt im historischen wie im aktuellen Kontext: So kann der Buchdruck stets als Indikator für die ,Druckreife‘ und Marktgängigkeit bestimmter Sprachen, Varietäten, aber auch Diskursdomänen gesehen werden. Während seiner Hochblüte im 16. Jahrhundert ließ sich gerade im Sektor der (kontrastiven) Grammatikographie und Lexikographie Profit schlagen (vgl. Quondam 1982). Der dem Buch inhärente Doppelcharakter als Handels- und Kulturgut (vgl. Quondam 1977) kommt hier besonders zum Ausdruck. Nicht zuletzt sind Druckereien und Verlage traditionell auch Markenunternehmen mit bewusst gewählten Standorten und haben mit ihren strategischen (mehrsprachigen) Verlagsprogrammen nicht selten das Monopol inne (z.B. die Druckdynastie der Giolito in Venedig, vgl. Nuovo/Coppens 2005). In den letzten Jahrzehnten treten angesichts zunehmend vernetzter Märkte, neuer Kommunikationsformen und anderer Globalisierungseffekte ökonomischer Nutzen und Verwertbarkeit individueller Sprachkenntnisse immer stärker in den Vordergrund, deren Vermessung und Quantifizierung nicht zuletzt die Rentabilität des Erwerbs unterschiedlicher Varietäten und Sprachen (neben dem Englischen in seiner globalen Funktion als Weltsprache) aufzeigen soll (vgl. z.B. De Swaan 2001; Grin 1990).

Im Gegenzug kann Mehrsprachigkeit auch als „kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1983) verstanden werden, das, vergleichbar mit anderen Kapitalformen, gewinnbringend eingesetzt und transformiert werden kann. Eine direkte Wertschöpfung setzt dabei die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung sprachlicher Ressourcen voraus. Wie jedoch sprachliche Konflikte und Stigmatisierungen in den mehrsprachigen Gebieten der Romania oder auch der Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit zeigen, scheinen die traditionell legitimierenden und zugleich marktwerterhöhenden Mechanismen im Hinblick auf die Sprachkenntnisse autochthoner wie allochthoner Minderheiten oftmals nicht zu greifen (vgl. z.B. Gogolin 1994; Kremnitz 1994). In diesem Sinne müsste gerade eine explizite Sprach(bildungs)politik auf die Bewahrung und Vermehrung des bereits in einer Gesellschaft vorhandenen sprachlichen Reichtums setzen, um einer Prestigehierarchie (z.B. im Hinblick auf „Eliten- und Armutsmehrsprachigkeit“, Krumm 2013) dauerhaft entgegenzuwirken. In der historischen Betrachtung stellt etwa Sardinien (15.-17. Jh.) ein bemerkenswertes Fallbeispiel dar, wo sich trotz bzw. gerade wegen sprachpolitischer Maßnahmen seitens der spanischen Habsburger bei einer zunehmenden Zahl von Sprachen die hierarchischen Beziehungen zwischen ihnen bzw. den Sprechergruppen verkomplizierten und eine Dramatisierung von Mehrsprachigkeit festzustellen ist.

Auf der Mikroebene kommen ökonomische Aspekte jenseits einer pekuniär-wirtschaftlichen Ausformung zum Tragen: In der mehrsprachigen Kommunikationspraxis kann der punktuelle Wechsel zwischen den Sprachen ebenfalls „aus Ökonomie und Bequemlichkeit“ (Kielhöfer/Jonekeit 1995: 76) erfolgen (vgl. auch Coulmas 1992). In historischen Quellen wird dies auch anhand von metasprachlichen Diskursen greifbar, die in den in Sprachlehrwerken selbst sowie in den bisher in der Linguistik vernachlässigten Paratexten eingeschrieben sind. Sie erlauben Rückschlüsse darauf, auf welcher ökonomischen Basis der Autor oder Übersetzer sein eigenes Sprachenrepertoire und jenes seiner Adressaten nutzt und wie ökonomisch er letztendlich seinen Text gestaltet. Nicht zuletzt spielen ökonomische Überlegungen auch für den Spracherwerb eine wichtige Rolle (vgl. z.B. Behr 2007; Meißner 1999). Dabei ist Mehrsprachigkeit nicht nur als Ziel, sondern auch als Voraussetzung für den Lernprozess zu verstehen. Dies gilt insbesondere für genetisch und strukturell verwandte Sprachen wie die romanischen Sprachen, da bereits vorhandene sprachliche Ressourcen und interlinguale Synergien für einen effizienten und gezielten Aufbau mehrsprachiger Kompetenz genutzt werden (können). Der Einsatz sprachübergreifender Transferressourcen steht aber nicht erst mit der Interkomprehensions- und Mehrsprachigkeitsdidaktik im Fokus, auch historisch betrachtet sind vielsprachige Lehrwerke und komparatistische Lehrpraktiken, die bereits erworbene Sprachkenntnisse einbeziehen, kein randständiges Phänomen (vgl. z.B. Weller 1998; Chierichetti et. al. 1997).

Impulsgebend für die Sektion, die eine Gegenüberstellung von historischen und aktuelleren Mehrsprachigkeitskonstellationen innerhalb der Romania bzw. romanischer Sprachen und Varietäten fruchtbar machen will, sind folgende Fragen:

• Welche wirtschaftlichen Überlegungen im Hinblick auf Sprachkenntnisse und Mehrsprachigkeit, die ideologisch gestützt bzw. aufgeladen sind/waren, lassen sich feststellen (Einsprachigkeitsideologie vs. Mehrsprachigkeitsideal; Elite- vs. Armutsmehrsprachigkeit)?
• Wie schlagen/schlugen sich die jeweiligen Einstellungen zu verschiedenen Sprachen ökonomisch nieder? Gibt/Gab es hierzu überhaupt Überlegungen oder entscheidet einfach das Gesetz des Marktes?
• Welche Sprachen werden/wurden im romanischen Sprachraum zu welchen ökonomischen Zwecken gelehrt bzw. gelernt? Werden lernökonomische Aspekte in Sprachlehrwerken expliziert? Gibt es entsprechende didaktische Ansätze
• Wie ökonomisch gestaltet der Autor oder Übersetzer seinen Text (transkodische Markierungen wie Interferenzen, code-switching, code-mixing), sei es auf bewusste oder unbewusste Art und Weise?

Bibliographie
Behr, Ursula (2007): Sprachenübergreifendes Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I. Ergebnisse eines Kooperationsprojektes der drei Phasen der Lehrerbildung. Tübingen: Narr.
Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Band 2, Göttingen, 1983, 183-198.
Chierichetti, Luisa/Lenarduzzi René/Rosario Uribe Mallarino, María del (Hrsg.) (1997): Spagnolo/Italiano: Riflessioni interlinguistiche. Milano: CUEM.
Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster.
Grin, François (1990): The economic approach to minority languages. Journal of Multilingual and Multicultural Development. 1990; 11: 153-173.
Kielhöfer, Bernd/Jonekeit, Sylvie (1995) Zweisprachige Kindererziehung. Tübingen: Stauffenburg.
Kremnitz, Georg (1994): Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit. Institutionelle, gesellschaftliche und individuelle Aspekte. Ein einführender Überblick, Wien: Braumüller.
Krumm, Hans-Jürgen (2013): „Elite- oder Armutsmehrsprachigkeit: Herausforderungen für das österreichische Bildungswesen“; Abschlussvortrag der Tagung „Mehrsprachigkeit und Professionalisierung in pädagogischen Berufen. Interdisziplinäre Zugänge zu aktuellen Herausforderungen im Bildungsbereich“, Wien 28.2.-1.3.2013; http://fdz-sprachen.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_fdz- sprachforschung/Tagungen/Mehrspra-chigkeit/Elitemehrsprachigkeit_PUB2_Krumm.pdf
Lüdi, Georges (1996): „Mehrsprachigkeit“, in: Goebl, Hans / Nelde, Peter H. / Stary, Zdenék/Wölek, Wolfgang (Hrsg.): Kontaktlinguistik/Contact Linguistics/Linguistique de contact. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/An International Handbook of Contemporary Research/Manuel international des recherches contemporaines, Berlin / New York: De Gruyter, 233-245 (= HSK 12.1).
Meißner, Franz-Joseph (1999): Das mentale Lexikon aus der Sicht der Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: Grenzgänge 6 (12), 62-80.
Nuovo, Angela / Coppens, Christian (2005): I Giolito e la stampa nell’Italia del XVI secolo, Genève: Droz.
Quondam, Amadeo (1977): „‘Mercatanzia d’onore’ e ‘Mercatanzia d’utile’. Produzione libraria e lavoro intellettuale a Venezia nel Cinquecento.“ In: Petrucci, Armando (Hrsg.), Libri, editori e pubblico nell’Europa moderna. Guida storica e critica, Roma-Bari: Laterza, 51-104.
Quondam, Amadeo (1982): „La grammatica in tipografia“. In: Le pouvoir et la plume. Inicitation, contrôle et répression dans l’Italie du XVIe siècle; actes du colloque internat. organisé par le Centre Interuniv. de Recherche sur la Renaissance italienne et l’Inst. Culturel Italien de Marseille, Aix-en-Provence, Marseille, 14 – 16 mai 1981, Paris: Université de la Sorbonne Nouvelle, 177-192.
Swaan, Abram de (2001): Words of the world. The global language system. Cambridge: Polity Press.
Tracy, Rosemarie (2007): „Wie viele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung für Gesellschaft und Forschung.“ In: Anstatt, T. (Hrsg.) Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb, Formen, Förderung. Tübingen: Narr Francke Attempto. 69-93.
Wandruszka, Mario (1979): Die Mehrsprachigkeit des Menschen, München u.a.: Piper.
Weller, Franz-Rudolf (1998): „Über Möglichkeit und Grenzen praktizierter Mehrsprachigkeit im Unterricht und außerhalb.“ In. Meißner, Franz-Joseph/Reinfried, Markus (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen. Tübingen: Narr, 69-80.

Beitrag von: Amina Kropp

Redaktion: Christof Schöch