Stadt: Wolfenbüttel (Herzog-August-Bibliothek)

Beginn: 2020-09-16

Ende: 2020-09-18

URL: https://www.spp2130.de/

Ausgangspunkt der Tagung ist die Frage nach den Bedingungen, die dafür verantwortlich zeichnen, dass überhaupt und in welcher Form übersetzt wird. Anders formuliert, geht es um die grundsätzliche Frage danach, warum bestimmte Texte, Bilder, Zeichenkomplexe, … eine Übersetzung erfahren, während andere unübersetzt bleiben (müssen). Welche Faktoren nehmen schließlich – im positiven Fall – Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung von Übersetzung im Sinne des Übertragungsprozesses von einem semiotischen und kulturellen System in ein anderes? Damit ist ein Themenfeld aufgerufen, in dessen Zusammenhang ein doppeltes Politikverständnis zum Tragen kommt: einerseits geraten Übersetzungspolitik(en) im Sinne des Konzepts der translation policy in den Fokus und mit ihnen soziokulturelle, ökonomische und interkulturelle Einflussfaktoren. Andererseits ist – spezifischer – an Übersetzungen im Kontext politischer Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse zu denken und somit an den Zusammenhang zwischen politics und translation.
Beiden Aspekten ist gemein, dass Übersetzungen immer mit den verschiedensten Machtstrukturen verflochten sind und keine neutralen Operationen darstellen. Darauf haben vor allem die postkolonialen Denker hingewiesen (Spivak 1993). Macht kann in sehr verschiedenen Formen wirksam werden. Übersetzungen können beispielsweise als Instrument der Unterwerfung genutzt werden, ganz konkret ‚von oben‘ reguliert werden, bis hin zu einer Übersetzungspolitik, die bestimmte Formen der Übersetzung verbietet (Burke/Hsia 2007). Politische Machtbeziehungen drücken sich zudem in kulturellen und linguistischen Systemen aus und strukturieren darüber ebenfalls Übersetzungen und Übersetzbarkeit (Venuti 2008). Hegemoniale diskursive Muster schlagen sich in Übersetzungen nieder, Grenzen des Sagbaren werden zu Grenzen des Übersetzbaren. Besonders relevant erscheinen in diesem Kontext auch eurozentrische Deutungsmuster und Übersetzungsfilter, die es zu problematisieren gilt. Politiken des Übersetzens haben mithin sowohl akteurszentrierte als auch strukturelle Dimensionen. Gerade deren Zusammenspiel soll im Zentrum der Jahrestagung stehen. Heuristisch erscheinen die Gesichtspunkte kulturelle Filter, Kalkül und Diplomatie vielversprechend. Im Einzelnen:

Kulturelle Filter:
Übersetzungskulturen implizieren immer auch Auswahlmechanismen, die von bestimmten Vorstellungen davon gesteuert werden, was für das Zielpublikum interessant, integrierbar und kulturell anschlussfähig ist. Gerade diese Perspektive ist besonders geeignet, einen strikt zielkulturellen Analyseansatz zu plausibilisieren. Der Erwartungs- und Interessehorizont, der in einer gegebenen Kultur eine Übersetzung generiert, ist dabei weitgehend unabhängig von dem, was man als die intrinsischen Qualitäten des Ausgangstextes betrachten mag. Dieser Horizont kann in Form bewusster übersetzerischer oder verlegerischer Entscheidungen und Strategien wirksam werden; er kann sich aber auch ganz unreflektiert artikulieren und so in unbewusster Form sozialen und kulturellen Machtstrukturen Ausdruck verleihen. Dabei sind die Mechanismen, die die Wahrnehmung fremdsprachlicher Literaturen und Kulturen filtern, außerordentlich vielfältig. Was in einer Ausgangskultur innovativ und brisant erscheint, mag für die potentielle Zielkultur, ob im Bereich, Literatur, Kunst oder Wissenschaft, altbacken und langweilig wirken und umgekehrt. Dabei spielt eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Fremdheitsmuster und Zuschreibungen des Exotischen sind hier ebenso zu nennen wie die Frage nach dem Prestige, das einer spezifischen Ausgangskultur zugestanden wird. Diese Problematik lässt sich auch in den Termini der Translationsnormen beschreiben, wie sie etwa Toury in seiner theoretischen Grundlegung einer historischen Translationswissenschaft zu systematisieren versucht hat (Toury, 2012).

Kalkül:
Produzenten- und rezipientenseitige Kapitalinteressen im Sinne von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital (Bourdieu) bedingen und beeinflussen Übersetzungsvorhaben in maßgeblicher Art und Weise. Die Aussicht auf wirtschaftlichen Gewinn und/ oder Renommee spielt auf verlegerischer Seite eine Rolle für die Entscheidung pro bzw. contra eine Übersetzung; ebenso wie vorhandenes soziales Kapital in Form von Kontakten zu versierten Übersetzern (Netzwerke) in die Überlegungen miteinbezogen wird. Mit Blick auf den Absatzkreis gilt es aus verlegerischer Perspektive das ökonomische und kulturelle Kapital der anvisierten Rezipienten zu beachten ebenso wie ihren möglichen Wunsch, vermittels des Erwerbs übersetzter Texte (bzw. umgekehrt des „Originals“) symbolisches Kapital zu generieren. Insbesondere die ersten beiden Aspekte nehmen Einfluss auf die formale Ausgestaltung übersetzter Texte (Umfang, sprachliches Register, Beibehaltung/ Auflösung von termini tecnici, Beigabe von Lexika, etc.).
Mit der Vergegenwärtigung dieses Mechanismus rückt neben dem Übersetzer (Bouza 2010) auch der Verleger als „entrepreneur of translation“ (van Groesen 2012) in der Frühen Neuzeit in den Mittelpunkt: Dieser erschloss vermittels Übersetzung in verschiedene Vernakularsprachen einen globalen Markt oder verfolgte dieses Ziel über die Wahl einer lingua franca. In vielen Fällen verschränkte sich solch verlegerisches Kalkül mit den Mechanismen von Macht und kultureller Anschlussfähigkeit.

Diplomatie:
Der Bereich der Diplomatie steht metonymisch für alle Formen der politischen Kommunikation im engeren Sinne. Übersetzungen spielen dabei in mehrerlei Hinsicht eine zentrale Rolle. Das gilt nicht nur in der Kommunikation zwischen Staaten und Regierungen oder im Rahmen von Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch im Kontakt zwischen Kulturen und Zivilisationen. Man denke hier insbesondere an die Rolle von Übersetzungen als Herrschaftsinstrument im Rahmen der Jesuitenmission oder an die Bedeutung von Übersetzungen für die spanische Kolonialpolitik ab dem 16. Jahrhundert. Nicht umsonst sind Dolmetscherfiguren wie die Malinche und Pocahontas im Kontext der Eroberung Mexikos und Virginias bis heute geradezu mythische Verkörperungen einer Kommunikation im Kulturkontakt, die auf der einen Seite mit ‚diplomatischem Aushandeln‘, Interessens-durchsetzung, aber auch Konsensfindung verknüpft ist, aber den Übersetzer/ Dolmetscher andererseits auch leicht zwischen die Fronten geraten lässt und zur Inkarnation des Verräters machen kann. Bei frühneuzeitlichen politischen Kongressen, wie den Friedenskongressen (Duchhardt/Espenhorst 2012; Espenhorst 2013), ebenso wie bei diplomatischen Delegationen wie dem Besuch osmanischer, persischer oder siamesischer Gesandtschaften am Hof Ludwigs XIV. von Frankreich (Kisluk-Grosheide/Rondot 2018) spielen zudem neben der sprachlichen Dimension para-verbale und non-verbale Codes sowie Rituale, Karten, Kleidungsstücke, theatralische sowie musikalische Inszenierungen und ausgetauschte Objekte eine zentrale Rolle für die hier zu beobachtenden Übersetzungs-, Dekodierungs- und Sinngebungsprozesse (vgl. allg. Burschel/Vogel 2014).
Vor dem Hintergrund der skizzierten Perspektiven ergeben sich folgende mögliche Fragen:

  • Welche Bedeutung haben der politische, religiöse, wirtschaftliche Kontext und die entsprechenden Machtstrukturen für die untersuchten Übersetzungen? Wird vor allem in den Inhalt oder die Form der Übersetzung regulierend eingegriffen?
  • Liegt eine domestication oder foreignization vor (Venuti) und inwiefern wird dadurch der zu übersetzende Text übermächtigt?
    Welche Bedeutung hat die (ästhetische) Faszination durch andere Kulturen und ihre Sprache(n) als Antrieb für Übersetzungen unterschiedlichster Art in der Frühen Neuzeit?
  • Welche Rolle spiel(t)en negative Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster, die lebensweltlich oder medial vermittelt sein können, als kulturelle Antriebsfaktoren für Übersetzungen?
  • Welche kulturellen Filter steuern die Auswahl zu übersetzender Texte?
  • Welche Bedeutung kam Übersetzungen in der Politik einzelner Verlagshäuser zu? Wo wurden sie zum Bestandteil verlegerischen Strategien; wo führten sie eine Randexistenz?
  • Wo und in welcher (sprachlichen, gestalterischen) Form manifestierte sich eine Anpassung des übersetzten Textes an das ökonomische und kulturelle Kapital des anvisierten Zielpublikums? Wo waren solcherlei Anpassungen das Resultat wirtschaftlicher und bildungsspezifischer Limitationen des Verlagshauses/Verlegers selbst?
  • Wo überschneiden sich die Prämissen kultureller Integrierbarkeit und wirtschaftlichen Kalküls? Wo widersprechen sie sich bzw. geraten in Konflikt miteinander? Gibt es Fälle, in denen gerade das Widerständige (‚Fremde‘, ‚Exotische‘) bzw. das Unsagbare (Verbotene, Tabuisierte) des Ausgangstexts zum Bestandteil von Übersetzungspolitik wird?
  • Welche spezifischen Verlaufsformen lassen sich in Übersetzungen im Kontext diplomatischer Aushandlungsprozesse beobachten? Welche Rolle spielen hier neben der Sprache nicht-sprachliche Elemente? Wie entstehen Missverständnisse und Konflikte und wie werden sie bewältigt?

Organisation: Antje Flüchter (Bielefeld), Andreas Gipper (Mainz), Susanne Greilich (Regensburg), Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken)

Beitrag von: Susanne Greilich

Redaktion: Robert Hesselbach