Stadt: Mannheim

Frist: 2015-01-15

Beginn: 2015-07-26

Ende: 2015-07-29

URL: http://www.romanistentag.de/index.php?id=1539

Sektionsleitung: Dr. des. Slaven Waelti (Universität Basel), Dr. Inga Baumann (Universität Tübingen)

In einem Eintrag seines Journals, „Le Cabinet du philosophe“ (1734), hat Marivaux die Liebe als einen ökonomischen Vorgang beschrieben: Der Galant, schreibt er, sei eine Art „Gläubiger, der einer Frau sein Herz vorgestreckt habe und nun verlangt, in derselben Währung zurückbezahlt zu werden“. Doch zunächst lehnt die Dame jegliche Schuldscheine ab: Erst nachdem er ihr seine Zuneigung, Inbrunst und Verzweiflung in Liebesbriefen, i.e. Zahlungsbefehlen, ausreichend zum Ausdruck gebracht hat, gelingt es ihm, ihr ein Bekenntnis in Form einer Litotes zu entlocken: „Qui vous dit que vous me déplaisez?“ Dieses Bekenntnis deutet der Galant als Abschlagszahlung, ebenso wie jedes Erröten, jede Verstimmung oder jedes Lächeln. Und auf diese Weise – von Abschlagszahlung zu Abschlagszahlung – kommt schließlich die Dame zum vollen Bekenntnis: „Je vous aime“. Hat sie damit die Schulden für das vorgestreckte Herz auf einen Schlag abbezahlt? Nein. Der Galant ruft ihr unmittelbar in Erinnerung, dass sie die Zinsen des ursprünglichen Vorschusses vergessen habe: Zinsen, die in dem Fall nicht bloß performativ abbezahlt werden können, sondern in Naturalien beglichen werden müssen. Daraus zieht Marivaux die Konsequenz: Je länger sie diese Auszahlung hinauszögert, desto länger behält sie ihren Verehrer. Tilgt sie jedoch ihre Schulden, so wird sie selbst zu einer Gläubigerin, deren Vorschuss allerdings nie zurückgezahlt wird. Für die Dame führt das Begleichen ihrer Schulden schließlich zum Bankrott und damit endet der Eintrag aus Marivaux’ Journal.

In diesem kurzen Text führt Marivaux paradigmatisch zwei normalerweise als voneinander getrennt gedachte semantische Felder – Liebe und Ökonomie – zusammen und zählt damit zu einem der ersten Autoren, der die Verschränkung in dieser Deutlichkeit schildert. Drei Jahrhunderte später, wo Singlebörsen einen Zulauf wie nie zuvor erfahren, erscheint Marivaux’ Engführung jedoch nicht mehr als erschütternde, sondern vielmehr als kühle Beschreibung eines Ist-Zustandes. Die Fragestellung der Sektion fokussiert genau diese Engführung, die Verquickung von Ökonomie- und Liebesdiskurs, um ihre verschiedenen Ausprägungen zu diskutieren, kritisch zu beleuchten, ihren rhetorisch-epistemologischen Status zu überprüfen und ihren diskursgeschichtlichen Standort zu bestimmen. Da die Sektion transversal konzipiert ist, sollen neben literarischen Werken aller Gattungen auch nicht-literarische Texte, traditionelle sowie neue Medien berücksichtigt werden.
Neben synchronen Analysen der ökonomischen Semantik(en) von Liebesdiskursen soll auch gerade der historischen Entwicklung des ‚ungleichen Paars‘ Liebe und Ökonomie besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. In der idealistischen Konzeption wird die Liebe seit Platon bis hin zur Romantik eigentlich als von Zweck- und Gewinndenken freier Bereich, als positiver Gegenentwurf zum ökonomischen Denken gedacht; dass diese Auffassung von Liebe kaum etwas mit realen zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat, haben Romantik-Kritiker wie z.B. Flaubert unter anderem in ihren realistischen Romanen vorgeführt (siehe z.B. die Éducation sentimentale). Wann und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ‚finden‘ die Liebe und das ökonomische Denken ’zueinander‘? Wie stark nimmt der Umbruch von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen und Liebesbeziehungen im Besonderen? In welcher Weise und mit welchen einhergehenden Wertungen werden die jeweils in einer Epoche kursierenden Ökonomie- und Liebesdiskurse semantisch miteinander verknüpft?

Als besonders aufschlussreich werden sich diesbezüglich die diskursgeschichtlichen Vorarbeiten Foucaults (siehe Les Mots et les choses zum Wirtschaftsdiskurs und Histoire de la sexualité_), die systemanalytischen Überlegungen Luhmanns (Liebe als Passion) erweisen sowie Charles Taylors Beobachtungen zu der Veränderung der social imaginaries im Zuge des Übergangs von der vormodernen zur modernen Gesellschaftsauffassung (die moderne Gesellschaft als Interessengemeinschaft). Ebenso für unsere Fragestellung interessant sind die philosophischen Reflexionen Lyotards (L’Économie libidinale_) und Klossowskis (La Monnaie vivante) und die psychoanalytisch-kulturgeschichtlichen Beobachtungen Freuds (Triebe und Triebschicksale und Jenseits des Lustprinzips).

Neben den hier beispielhaft skizzierten Problemen und Fragestellungen wirft die Engführung von Ökonomie und Liebe in den unterschiedlichsten Disziplinen der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Medien- oder Kulturwissenschaft theoretisch- wie auch praxisorientiert spannende Fragen auf:

Literaturwissenschaft. Neben dem Journal-Eintrag von Marivaux gibt es zahlreiche Texte der romanischen Literatur, die in Roman-, Gedicht- oder Theaterform ähnliche Arten der Verquickung von Liebe und Ökonomie durchspielen. Neben dem rhetorischen Einsatz des ökonomischen Diskurses könnten auch tatsächlich kommerzialisierte Formen der Liebe als Themen der Literatur behandelt werden, sprich die spätestens seit Baudelaire salonfähig gemachte Prostitution, die ein fast allgegenwärtiges Ingrediens der lateinamerikanischen Literatur darstellt. Interessant ist vor allem auch die Frage nach den sich aus den fiktional inszenierten Liebesbeziehungen ergebenden Gender-Identitäten.
Sprachwissenschaft. Vokabular der Ökonomie in den modernen Formen der Liebe. Was sind die Rhetoriken der „Singlebörsen“ in den jeweiligen romanischen Sprachen? Was hat es mit Begriffen wie „Liebeshandel“ oder „Selbstwertgefühl“ oder, auf Spanisch „tráfico de emociones“ oder „inversión sentimental“ auf sich? Im Französischen konnte beispielsweise das Wort „Commerce“ im 18. Jahrhundert sowohl den Handel als auch die Liebesbeziehung bezeichnen. Die Diskussion würde sich also sowohl an ForscherInnen der Sprachwissenschaft mit konversationsanalytischen, soziolinguistischen oder diskursanalytischen Ansätzen als auch an ForscherInnen der historischen Linguistik richten.
Kultur- und Medienwissenschaft. Im Mittelpunkt stehen Begriffe wie Zeichen, Tausch und Gabe. Wenn die Liebe nur ein „X“ (Freud) ist, wie Freud meint, welche Zeichen kann es mitteilen? Es gibt „Medientechniken ohne Liebe, aber keine Liebe ohne Medientechniken“ schrieb Kittler (2012): Die Medientechnik (Sprache, Literatur, Kunst) dient dazu, das Unaustauschbare der Emotionen, Triebe oder Leidenschaft, nämlich die Intensität, austauschbar und mitteilbar zu machen (Geffen 2013): Also das, was nicht spricht und absolut singulär ist, in eine allgemeine Ökonomie zu überführen. Von besonderem Interesse könnte hier das Verständnis von Ökonomie als autopoietisches System sein, das sich aus den Elementen zusammensetzt, das es eigens geschaffen hat (Vogel 2002). Menschen müssen also innerhalb einer symbolischen Ordnung, die auf Austausch ausgerichtet ist, einen Wert einnehmen, um überhaupt lieben zu können und geliebt zu werden.

Abstracts im Umfang von maximal einer Seite bitte bis zum 5.1.2015 an:
inga.baumann(at)uni-tuebingen.de

Literatur (Auszug):
Georges Bataille, La Part maudite, Minuit, 1949.
Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Gallimard, 1954.
Emmanuel Bouju, L’Émotion, puissance de la littérature?, Presses universitaires de Bordaux, 2013.
Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Aufbau Verlag, 2012.
Sigmund Freud, Gesammelte Werke, S. Fischer, Das Unbewusste (1915), Triebe und Triebschicksale (1915) und Jenseits des Lustprinzips (1920).
Alexander Geffen, Empathie et esthétique, Hermann, 2013.
Jean-Joseph Goux, Frivolité de la valeur. Essai sur l’imaginaire du capitalisme, Blusson, 2000.
Friedrich Kittler, Optische Medien, Merve, 2002.
Pierre Klossowski, La Monnaie vivante, Joelle Losfeld, 1971.
Alexander Kluge und Joseph Vogl, Soll und Haben, Diaphanes, 2008.
Marcel Mauss, Essai sur le don, P. U. F., 2012.
Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp Verlag, 1994.
Jean-François Lyotard, L’Économie libidinale, Minuit, 1974.
Michael Rinn, Émotions et discours. L’usage des passions dans la langue, PU Rennes, 2008.
Charles Taylor, Modern Social Imaginaries, Duke University Press, 2004.
Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Diaphanes, Berlin, 2002.
Joseph Vogl, Das Gespenst vom Kapital, Diaphanes, 2010.

Beitrag von: Inga Baumann

Redaktion: Christof Schöch