Stadt: Mannheim

Frist: 2015-01-15

Beginn: 2014-11-03

Ende: 2015-01-15

URL: http://www.romanistentag.de/

Sektionsleitung:
Agnieszka Komorowska (Universität Mannheim) ; Annika Nickenig (Humboldt-Universität zu Berlin)

Der Mehrwert des Scheiterns. Formen und Funktionen unökonomischen Erzählens

Das Scheitern hat in aktuellen öffentlichen Debatten Konjunktur. Es begleitet den Diskurs der Wirtschaftskrise, die Diskussion um das Projekt der Europäischen Union sowie den Zusammenbruch traditioneller Lebens- und Familienentwürfe und sozialer Strukturen. Als Widersacher von „Reglungs-und Steuerungsphantasien“ (Koller/Rieger-Ladich 2013) stellt das Scheitern als das Nicht-Beherrschbare die Annahme einer grundsätzlichen Machbarkeit in Frage. Es birgt somit ein Irritationspotential, dessen Produktivität für literarische Darstellungsverfahren untersucht werden soll.

Ähnlich wie das deutsche Wort Scheitern etymologisch auf das Scheitholz zurückgeht und ein „zu Scheitern werden“ bezeichnet, so steht für die romanischen Sprachen das lateinische Verb frangere an der Wurzel zu fracaso (sp.), fracasso (pt.). Somit bezeichnet das Scheitern, Misslingen und Versagen stets eine Handlung, die an den Ansprüchen der Protagonisten, den Normen und Erwartungen der Gesellschaft, den Kalkulierungen eines greifbar scheinenden Erfolges zerschellt. Ein bewusster Fehler, nämlich die Täuschung, steht zudem mit dem lateinischen fallere am Ursprung von faillite (frz.) und fallimento (it.). Versagen und Verweigerung, Nicht-Können und Nicht-Wollen bilden somit die beiden Seiten des Scheiterns.

Zudem ist im französischen Begriff faillite auch das ökonomische Scheitern in Form eines monetären Bankrotts inbegriffen. Die Verzahnung von Ökonomie und Scheitern, die Ausgangspunkt und Leithypothese der Sektion bildet, illustriert für die Literatur der Moderne sinnbildlich Italo Svevos Roman La coscienca di Zeno (1923). Zeno Cosini scheitert nicht nur daran, das Rauchen aufzugeben, sondern auch bei der Wahl seiner Ehefrau, an der Börse und in seinem Projekt einer Psychoanalyse. Zugleich sind alle Vorgänge im Roman – die finanziellen Spekulationen und die amourösen Zirkulationen – ökonomischen Strukturen unterworfen.

Wenn es in der rezenten Forschung über das Einfluss- und Austauschverhältnis von Literatur und Ökonomie einige Versuche gegeben hat, Prämissen und Konturen einer „narrativen Ökonomie“ zu bestimmen (Joseph Vogl 2002 und 2010 / Franziska Schößler 2009 / Jochen Hörisch 2011), dann stellt sich die Frage, ob es so etwas wie „unökonomisches Erzählen“ gibt und wie dieses aussehen könnte. Von was für einer Form der „Erzählökonomie“ grenzt es sich ab und welcher semantische oder ästhetische Mehrwert lässt sich möglicherweise daraus schöpfen? Ist die Darstellung des Scheiterns ein Sonderfall oder per se Gegenstand literarischer Texte? In der geplanten Sektion wird die These verfolgt, dass sich unökonomisches Erzählen – sowohl auf der Ebene der Handlung und der Figuren als auch auf der Ebene der Erzählverfahren und textuellen Strukturen – in Form eines Scheiterns manifestiert, das kalkuliert sein kann, aber nicht muss.

Die Sektion verfolgt ein dreifaches Ziel: Erstens gilt es, Motive des Scheitern in ihrem diskursiven Geflecht zu erfassen. Dabei sind Etappen von den Picaro-Figuren des romanischen Epos und ihren Nachfolgern in der Novellistik des Siglo de Oro über Flauberts manische Wissenssammler Bouvard et Pécuchet im 19. Jh. bis hin zu den Verlierer-Figuren der Moderne (z.B. im Dilettantismus) und der Nachmoderne (z.B. bei den unzuverlässigen Erzählern der Minuit-Autoren) denkbar. Dabei stellt sich die Frage, zu welchem Zweck die Autoren ihre Figuren an den bestehenden Verhältnissen und / oder in ihren Projekten scheitern lassen.

Zweitens, und darauf aufbauend, soll über die Phänomenologie des Scheiterns hinaus der Versuch unternommen werden, eine Erzählökonomie zu skizzieren, die das Scheitern zum Ausgangs- oder Zielpunkt der Darstellung macht. Dies gilt für narrative und dramatische Texte, die sich bewusst gegen Spannungsbögen und identifikatorische Lektüren sperren und den Bruch und die Entfremdung suchen. Dies gilt für Erzählexzesse, die statt des Abschlusses die Wiederholung, Verschiebung und Ausschweifung setzen. Im Fokus stehen damit Schreibverfahren, die gerade in der Verweigerung oder Irreführung einer bestimmten Erzählökonomie einen ästhetischen Mehrwert hervorbringen.

Drittens gilt zu fragen, inwiefern die thematische Beschäftigung mit dem Scheitern in bestimmten Umbruchphasen Konjunktur hat. Unter welchen historischen Voraussetzungen verfallen Autoren darauf, das Scheitern in den Mittelpunkt ihres Schreibens zu rücken und produktiv zu wenden? Hier sollen Rückkoppelungseffekte zwischen historischen Krisen und literarische Krisendiskurse untersucht werden (etwa der Zusammenbruch von Erklärungs- und Deutungssystemen, das Scheitern der Aufarbeitung historischer Krisen und Katastrophen).
Die Idee, dass die literarische Darstellung des Scheiterns einen ästhetischen Mehrwert hervorbringen könnte, ist nicht dazu angelegt, das im Scheitern implizierte Moment der Krise (etwa im Sinne eines durch den Misserfolg ermöglichten Neuanfangs) zu nivellieren. Stattdessen soll es in der geplanten Sektion um Texte gehen, in denen das Scheitern produktiv wird, ohne zugleich einer bestimmten Funktionalisierung oder Nutzbarkeit unterworfen zu sein. Dem Scheitern ist ein Element der Verweigerung und Ineffizienz inhärent. Damit aber ist es sozusagen per se den Prinzipien einer Ökonomie des Textes oder einer Erzählökonomie entgegengesetzt; es generiert Formen unökonomischen Erzählens, wobei festzuhalten ist, dass dieses nicht als Erzählen jenseits der Ökonomie zu verstehen ist. Vielmehr spielt dieser Begriff auf die Bedeutung „sparsam“ an, die in den Wörterbüchern unter dem Lemma „Ökonomisch / wirtschaftlich“ figuriert, und damit Rationalität, Planbarkeit und Effizienz impliziert. Unökonomisches Erzählen wäre somit ein Erzählen, das den wirtschaftlichen Prinzipien von Effektivität widerspricht, indem es auf Darstellungsweisen der Amplifikation oder der Reduktion basiert und diese zuspitzt, oder das bestimmte ökonomische Erklärungsmodelle konterkariert.

Auf der Ebene der histoire kann dies in der Darstellung finanzieller Niederlagen, Konkursereignisse oder Fehlspekulationen der Fall sein. Die in einer solchen Handlung agierenden Figuren sind Zocker und Bankrotteure, Faulenzer und Müßiggänger, scheiternde Künstler und Reisende oder traditionelle Verlierer und Prekäre. Strukturell ist eine unterbrochene oder gehemmte Zirkulation von Dingen, Figuren und Werten denkbar, ein Ungleichgewicht von Kräften und Verhältnissen, ein Fehlen von Teleologie oder Katharsis. Auf der Ebene des discours lässt sich die Unterbindung von Spannung oder Dramaturgie als unökonomisches Erzählen auffassen, ebenso wie Formen der narrativen Ausschweifung.

Von diesen Überlegungen ausgehend wollen wir drei paradigmatische Kategorien unökonomischen Erzählens vorschlagen:
1. Prinzipien des Dysfunktionalen, des Ineffizienten in Form von Ausschweifungen, Exkursen, Prozesshaftigkeit, Unabschließbarkeit;
2. „un-spannendes“ und „nicht-dramatisches“ Erzählen, Ereignisarmut, fehlende Teleologie oder Ereignisverkettung („roter Faden“), Aneinanderreihungen von Disparatem, logische Brüche, Wendungen, Wiederholungen;
3. Irrationalität, mangelnde Planbarkeit, fehlende Übersicht, Durchkreuzen und Irreleiten bestehender textueller Kategorien, generischer Zuordnungen sowie anderer Lektüreerwartungen.
Ausgehend von solchen Verfahren unökonomischen Erzählens lässt sich schließlich diskutieren, inwiefern die Literatur in der Darstellung des Scheiterns ihre eigene gesellschaftliche Funktion oder Dysfunktionalität thematisiert, inwiefern sie möglicherweise eine Profitabilität resp. Nutzbarmachung von Kunst verweigert und politisch-ökonomische Diskurse und Zwänge performativ zum Scheitern bringt.

Abstracts werden bis zum 15. Januar 2015 an komorowska@phil.uni-mannheim.de erbeten.

Beitrag von: Agnieszka Komorowska

Redaktion: Christof Schöch