Stadt: Frankfurt am Main

Frist: 2022-10-21

Beginn: 2023-02-09

Ende: 2023-02-10

Bann und Fluch sind performative Sprechakte. Unter Bezugnahme auf die Autorität von Göttern, Recht oder Familie zielen sie auf eine Veränderung der Wirklichkeit. In ihrer jeweiligen Äußerungsposition richten sie sich am Verhältnis von Innen und Außen sowie Macht und Machtlosigkeit aus, können dieses ihrerseits aber auch herstellen, befestigen oder in Frage stellen. Nicht zuletzt machen literarische Figurationen von Fluch und Bann diese Verhältnisse lesbar: Verweist der institutionell abgesicherte Bann sein Ziel aus der Gemeinschaft, um es einem Raum außerhalb des Rechts und der kulturellen Ordnung zu überantworten, kann der Fluch genau umgekehrt aus einer Position der Ohnmacht und vermeintlichen Hilflosigkeit geäußert werden. Transzendente Instanzen und mit ihnen verbundene Gesetze wie das Gastrecht anrufend, ist der auf Schaden oder Vernichtung drängende Fluch mitunter die letzte Rache der Ausgestoßenen und Entrechteten. Mögen Bann und Fluch in ihrem Status zwischen kühlem Verwaltungsakt und formelhaftem Zauberspruch changieren, handelt es sich in beiden Fällen um ein antagonistisches Sprechhandeln, das nicht allein den Abbruch von weiteren kommunikativen Beziehungen zeitigt, sondern unmittelbar mit Gewalt zusammenfallen kann.
Obschon mit der Vorstellung einer sprachlichen Veränderung von Wirklichkeit auch magische Praktiken aus dem Vorstellungsbereich des Aberglaubens aufgerufen sind, beweisen literarische Inszenierungen von Fluch und Bann gegenüber Standortbestimmen der Aufklärung eine hohe Beständigkeit und Faszinationskraft. Anstatt der geschichtsphilosophischen Aussortierung zu verfallen, gewinnt der in ihnen aufgerufene Grenzbereich von Sprache und Gewalt gerade im Drama um 1800 eine deutliche Präsenz und markiert eine besondere Position zwischen Affekt und Kalkül. Innerhalb des Kanons ließe sich dies einerseits an der Vielzahl an Verbannungen aus familiären oder politischen Gemeinschaften etwa in Diderots Le père de famille, Klingers Die Zwillinge, Hölderlins Tod des Empedokles oder Die Verschwörung des Fiesko zu Genua von Schiller verdeutlichen. Andererseits finden sich etwa in Grillparzers Medea, Byrons Manfred und Percy B. Shelleys Prometheus Unbound Konstellationen, in denen marginalisierte oder unterlegene Subjekte Handlungsmacht und Stimmgewalt durch hasserfüllte Flüche erlangen.
In diesem Zuge bilden Fluch und Bann ein besonderes Verhältnis zur Gattung des Dramas aus, das sich als Strukturanalogie fassen lässt. Denn während der Fluch in der antiken Tragödie aus der Vergangenheit heraus in die Spielräume des Handelns drängt, gewinnen Bann und Fluch im Drama um 1800 eine starke Gegenwarts- und Selbstbezüglichkeit. Als Sprechhandlungen, die in der Regel einer bestimmten Inszenierung und Choreographie gehorchen, verweisen sie in einer selbstreferentiellen Geste einerseits auf die Performanz und Aufführungsform des Dramas, tendieren andererseits aber auch zum Bruch mit der intersubjektiv-dialogischen Struktur der dramatischen Gattung und lassen sich so womöglich als Grenzform des Sprechens im Drama ausmachen.
Wie deutlich wird, sind für den Workshop und seine Aufmerksamkeit auf der historischen Konjunktur von Bann und Fluch innerhalb des Dramas um 1800 interdisziplinäre Perspektiven zwischen Komparatistik, Theaterwissenschaft und Philosophie unverzichtbar. Im Kern des Interesses stehen unter anderem die folgenden Fragen:

  • Welche gattungspoetologische Bedeutung besitzen Bann und Fluch für das Drama um 1800 und in welcher intertextuellen Relation stehen sie zur Tragödie der Antike?
  • Welchen Inszenierungen und Choreographien folgen Fluch und Bann oder verwandte affektive Äußerungen?
  • Wie verhält sich die in der dramatischen Inszenierung von Fluch und Bann zur Disposition stehende Relation von Sprache und Handlung zu den historischen Umbruchs- und Gewalterfahrungen der Französischen Revolution?
  • Inwieweit lassen sich die in Fluch- und Bannszenenausgehandelten Aus- und Einschlüsse im Zusammenhang politischer Modelle von Souveränität, Gastrecht und Fremdheit um 1800 lesen? Wie verhalten sich Bann und Fluch dabei zur sprachlichen Konstitution von Gemeinschaft durch Eid und Schwur?
  • In welcher Relation stehen dramatische Inszenierungen von Sprechhandlungen zu sprachphilosophischen Modellen um 1800, die den Handlungscharakter von Sprache betonen (etwa bei Kant, Herder, W.v. Humboldt)?

Die Freistätte #5 wird am 09./10. Februar 2023 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main stattfinden und ist als Präsenzveranstaltung vorgesehen – gemäß den Entwicklungen der Pandemie können sich jedoch kurzfristig Planänderungen ergeben. Die Veranstaltung bildet den fünften Teil der Workshopreihe Freistätte der AVL Frankfurt.
Die anteilige Übernahme von Reise- und Unterbringungskosten ist geplant, allerdings noch nicht gesichert. Beiträge – auf Deutsch oder Englisch – sollen ca. 30 Minuten lang sein. Abstracts von max. 350 Wörtern sowie eine biografische Notiz werden erbeten bis zum 21. Oktober an voelker@em.uni-frankfurt.de, weise@tfm.uni-frankfurt.de.

Bibliographie

Agamben, Giorgio: The Sacrament of Language: An Archaeology of the Oath. Stanford 2011.
Berndt, Frauke/Sebastian Meixner: Goethe’s Archaeology of the Modern Curse (Orest, Faust, Manfred). In: MLN 131 (2016), S. 601–629.
Berndt, Frauke: Fluch! Franz Grillparzers Medea-Trilogie. Würzburg 2020.
Dorschel, Andreas: Entwurf einer Theorie des Fluchens. In: Variations 23 (2015), S. 167–175.
Esterhammer, Angela: The Romantic Performative. Language and Action in German Romanticism. Stanford 2000.
Jones, Steven E.: Shelley’s Satire. Violence, Exhortation, and Authority. DeKalb 1994.
Niehaus, Michael: Das Verfluchen als gewalttätiger Sprechakt. Familiengeschichten. In: Bergengruen, Maximilian/Borgards, Roland (Hg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Göttingen 2009, S. 277–320.
Quiring, Björn: Shakespeares Fluch: Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance. Paderborn 2009.
Risthaus, Peter: Fluchen, – an die Wurzel gehen. Hölderlins Rückkehr ins Element. In: Friedrich, Peter/Manfred Schneider (Hg.): Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte. München 2009. S. 271–292.
Stauffer, Andrew M.: Anger, Revolution, and Romanticism. Cambridge 2005.
Szondi, Peter: Theorie des Modernen Dramas. Frankfurt 1956.
Tatari, Marita: Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme. Paderborn 2017.

Beitrag von: Oliver Völker

Redaktion: Ursula Winter