Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

Präsenz ist ein theoretisch facettenreich erfasster Begriff, der mit Blick auf die Literatur- und Medienwissenschaften vor allem von Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch vielfältig anschlussfähige Theoretisierungen erfuhr. Gemeinsam ist den unterschiedlich fokussierenden Ansätzen die Grundannahme, dass Präsenz neben der temporalen Dimension (Gegenwärtigkeit) immer auch eine physische Dimension (Anwesenheit) und eine mediale Ebene (Unmittelbarkeit) aufweist. Dabei spielen die Möglichkeiten, das Präsenz-Erleben ästhetisch zu vermitteln sowohl in der literatur- und bildwissenschaftlichen Reflexion als auch in der literarischen Darstellung selbst eine wesentliche Rolle. Bei der Frage nach dem Verhältnis von Präsenz und Darstellung ist zum einen das Aisthetische, d.h. die Vielfalt an Wahrnehmungsformen von Präsenz relevant.

Präsenz von fernen Räumen kann beispielsweise imaginiert, erträumt oder geträumt werden. In Julio Cortázars Rayuela (1963) etwa lässt Horacios Vorstellungskraft teils die Grenzen zwischen Buenos Aires und Paris verschwimmen, und in Fatou Diomes Le ventre de l’Atlantique (2003) transportiert Salies Imagination beim Betrachten eines Fußballspiels im Fernsehen in Frankreich die Rezipierenden auf die senegalesische Insel Niodior. Zum anderen sind verbal wie ikonisch abbildende Verfahren wesentlich, mit denen narrative Texte Präsenzeffekte erzeugen können. So schafft typographische Nähe von real entfernten Räumen textuelle Gegenwärtigkeit im Sinne von Jurij Lotmans „räumliche[m] Kontinuum“ (1993: 329), beispielsweise in Igiaba Scegos La mia casa è dove sono (2010), wo die mentale Kartierung zu einer Überlagerung Roms und Mogadischus führt. Ottmar Ette (2020) wiederum präsentiert verschiedene geometrische Formen wie Pendel, Kreis und Stern zum Wiedergeben von (Reise-)Bewegungen. In Benito Pérez Galdós’ Doña Perfecta (1876) etwa symbolisiert der Zug die pendelartige Verbindung von Stadt und Land, welche sich im Roman diametral gegenüber stehen. Zugleich generieren eingefügte Abbildungen wie Fotografien – beispielsweise in Bruges-la-Morte (1892) von Georges Rodenbach – auch visuelle Präsenz.

In unserer Sektion wollen wir uns unter dem nachwirkenden Einfluss des spatial turn mit dem Spannungsverhältnis von Präsenz und Virtualität auseinandersetzen. Ist hier von Präsenz die Rede, so ist dabei die narrativ erzeugte Gegenwärtigkeit von Räumen und Orten in literarischen Texten gemeint. Just an dieser Stelle kommt auch die Frage der Authentizität und des Realitätsgehaltes bzw. der Fiktivität oder Virtualität des evozierten Raumes auf. Basiert ein im Sinne von Roland Barthes ,geschaffener effet de réel‘ (1968) eines bestimmten Raumes oder Ortes auf einer realweltlich vorgefundenen Räumlichkeit oder wird ein rein fiktiver Raum trotz seiner Virtualität unmittelbar erfahrbar gemacht? Es geht folglich um die Reziprozität zwischen realen und fiktionalen, zwischen real gemachten und rein virtuellen Räumen. Dabei kommt der Bewegung im Raum und deren narrativer Abbildung eine ebenso große Bedeutung wie den durch Worte bewegten und transformierten Räumen zu. Es geht also um die Auslotung unterschiedlicher Verfahren der textuellen Vergegenwärtigung erinnerter, bereister, erlebter, erlittener oder konstruierter, imaginierter und virtueller Räume. Stehen dabei narrative Texte im weitesten Sinne im Zentrum des Interesses, so erweist sich die Untersuchung ikonischer, speziell fotografischer Raum-Vergegenwärtigung im Spannungsverhältnis zu rein sprachlich aufgespannten Räumen als besonders produktiv.

Der Bedeutung der Fotografie bei der medialen Integration eines seinerseits ambivalenten Verhältnisses von Präsenz und Absenz des Abgebildeten Rechnung tragend, soll der Untersuchungszeitraum mit dem 19. Jahrhundert einsetzen und bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Um die auch diachronische Vergleichbarkeit des Untersuchungskorpus zu gewährleisten, sollen ausschließlich erzählende Textgattungen in den Blick genommen werden, das Spektrum möglicher Untergattungen ist dabei weit gefächert und kann u.a. von Reiseberichten und Regionalromanen über Utopien und Dystopien bis hin zu Science Fiction-Romanen reichen.

Mögliche Fragenkomplexe könnten dabei u.a. sein:

  • Anhand welcher textueller und narrativer Verfahren wird Reziprozität zwischen präsenten und gedachten Räumen erreicht?
  • Wie wird textuell Bewegung im Raum geschaffen und wie bewegen Wörter Räume?
  • Wie dienen fiktionale oder exotische Räume dazu, reale Räume zu deuten?
  • Wie entwickeln sich die Räume, ihre Wechselbeziehung und die narrativen Verfahren diachronisch?
  • Besonders aufschlussreich könnte es zudem sein, unterschiedliche kulturelle und räumliche Blickpunkte gegenüberzustellen. Welche Räume werden etwa in Lateinamerika, Afrika oder Asien im Vergleich zu Europa als imaginär, exotisch dargestellt und inwiefern unterscheiden sich die narrativen Verfahren hier?

Überdies ist auch ein intermedialer Zugriff denkbar:

  • Wie trägt Intermedialität dazu bei, Präsenz zu schaffen?
  • Wie kann durch die visuelle Einarbeitung realer oder imaginierter Räume – beispielsweise durch Fotos, Illustrationen, Stiche – textuelle Präsenz von real entfernten bzw. gar nicht existierenden Räumen geschaffen werden?

Wir freuen uns auf Ihre Vortragsvorschläge von max. 4000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Bibliographie) als Pdf- und Doc-Datei unter Angabe des Titels sowie von Namen und Kontaktdaten bis 31.12.2022 an hnohe@uni-bonn.de und Marina.Hertrampf@uni-passau.de. Vortragssprachen sind Französisch, Italienisch, Spanisch und das Deutsche.

Auswahlbibliografie
Barthes, Roland (1994 1968), „L’effet de réel“, in: Œuvres complètes II, hrsg. v. Eric Marty, Paris: Seuil, 479-484.
Ette, Ottmar (2020), ReiseSchreiben, Berlin: De Gruyter.
Gumbrecht, Hans Ulrich (2012), Präsenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Lotman, Jurij M. (1993 1972), Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München: Fink.
Mersch, Dieter (2002), Was sich zeigt, Materialität – Präsenz – Ereignis, München: Fink.
Mersch, Dieter (2010), Posthermeneutik, Berlin: Akademie.

Beitrag von: Hanna Nohe

Redaktion: Robert Hesselbach