Stadt: Leipzig

Frist: 2022-12-31

Beginn: 2023-09-24

Ende: 2023-09-27

Sektionsleitung: Dr. Miland Herold (Bonn) & Dr. Paul Strohmaier (Trier)

An einem der Anfänge poetologischer Anfangsreflexion begegnet der Anfang als etwas Nicht-Notwendiges: „Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.“ (Aristoteles 2002: 25) Als klar bestimmbares Initialmoment einer Kausalitäten- oder Handlungsfolge unterscheidet sich der literarische Textanfang nicht zuletzt maßgeblich von der ,Anfangslosigkeit‘ des Alltagslebens, da „in der empirischen Wirklichkeit jede Handlung mannigfaltige Voraussetzungen [enthält], so daß es sich schwer bestimmen läßt, an welchem Punkte der eigentliche Anfang zu finden sei“ (Hegel 1986, 489). Ob als dramatischer Prolog, Proömialgedicht, Romanbeginn oder Auftaktgesang epischer Dichtung: An jedem dieser Anfänge zeigen sich das Werk und dessen Sinnmöglichkeiten in einer grundlegenden Ambivalenz von Präsenz und Virtualität: Als „champ des possibles restreint“ (Bourdieu) par excellence enthält es proleptische Momente, die zugleich, allein schon aus Gründen der Spannungsökonomie, von einem durch Vagheit markierten Möglichkeitsraum umgeben werden. Zugleich bildet der Werkanfang den privilegierten Ort impliziter Poetik, insofern poetologische Innovationen hier, anders als in rahmenden Paratexten, direkt und in actu vorgeführt werden können. Dabei bildet der Textanfang vielfach auch einen „Kulminationspunkt intertextueller Bezüge“ (Polaschegg 2020: 19), man denke etwa an die Initialverse in der Versepik der Frühen Neuzeit.
Das Verhältnis von Anfang und Werkganzem ist nicht notwendig teleologisch motiviert, vielmehr können Fortgang und Werkschluss auch in ein Verhältnis der Diskrepanz geraten, etwa im Falle unzuverlässiger Erzähler oder anderer moderner Verfahren der Dekonstruktion tradierter Sinnmuster, etwa auch aporetischer Anfangskonfigurationen, d.h. Anfängen, die die Schwierigkeit anzufangen selbstreflexiv akzentuieren. Nicht nur lebensweltlich ist ,wirklich‘ anzufangen mit Prokrastination, Aufschub und der Frage nach Eigentlichkeit verbunden. Auch ein zur Sprache kommen setzt sich unweigerlich mit dem Problem auseinander, „nicht am Anfang angefangen [zu haben], sondern bei einem späteren Einsatz“ (Sloterdijk 1988: 38). Es finden sich mannigfaltige Hinsichten und Traditionslinien, die Antworten auf die Frage nach dem Anfang versuchen. Der Romananfang kann virtuell bleiben und immer wieder einsetzen wie in Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore, Anfänge wie die ersten Verse der Divina Commedia erlangen zuweilen den monolithischen Rang eines lieu de mémoire oder eines Prinzips wie im Falle von Leo Tolstois Anna Karenina. Michel de Montaignes Au Lecteur der Essais setzt mit „C’est icy un livre de bonne foy, lecteur.“ eine (ironische) These, Selbstaussage und Leseaufforderung als ersten Satz, dem eine gnomisch-zeitlose Prägnanz und Präsenz zukommt. Solche Ausgangs- und Fixpunkte veranschaulichen Verortungsmöglichkeiten und Familienähnlichkeiten des Begriffs ,Anfangs‘ und verleihen ihm den herausgehobenen, paradigmatischen Charakter einer Denkfigur. Alles auf (den) Anfang zu setzen, beinhaltet als Versprechen potenziell das (Werk-)Ganze, dessen prozessuale und performative Seite auf der Bühne und in Theaterstücken besonders augenscheinlich wird.
Anfänge können als latente und fruchtbare Augenblicke aufgefasst werden, die sich entfalten und in der Rezeption entfaltet werden; in den Worten Hamms aus Samuel Becketts Endspiel: „Das Ende ist im Anfang, und doch macht man weiter.“ (Beckett 1974: 97). Anfänge stehen auch immanent im Kontext einer eigenen Kohärenz und Konsistenz, die ein Hauptthema exponieren und bereits bündeln, so wenn Alceste im ersten Akt von Molières Le Misanthrope sein Credo ausgibt – „Je veux qu’on soit sincère, et qu’en homme d’honneur, / On ne lâche aucun mot qui ne parte du cœur.“ (V. 35f.) – im leitenden Gegensatz zwischen aufrichtigem und verdecktem Sprechen, der das ganze Stück bestimmt (Molière 1971: 143). Gemeinsam sind diesen Beispielen und Ansatzpunkten die Suchfunktion von Einheit und Sinnstiftung. Die Erwartungshaltung an und die Bedeutung von Anfängen weisen eine enge Verwandtschaft auf mit einer emblematischen Krisenerfahrung, mit der Spannung zwischen krisis und kairos als Ent- und Unterscheidung. Der im Deutschen etymologisch mitangesprochene haptische Wert erinnert gleichsam daran, darüber Rechenschaft zu geben, was in welcher Hinsicht am Anfang steht und als Anfang aufgefasst (,angefasst‘) wird. Schließlich kann der Anfang auch als unrettbar kontingent ironisiert werden, wie in der (fiktiven) Anfangsformel: „La marquise sortit à cinq heures.“, die André Breton im Manifeste du surréalisme Paul Valéry zuschreibt.
Die Sektion möchte die vielfach komplexen Figurationen des Anfangs in den romanischen Literaturen zum Anlass nehmen, über den Anfang als spezifisch literarische Sinnfigur nachzudenken und dabei einerseits in den Blick zu nehmen, welche Typologien von Anfängen sich ermitteln, und andererseits zu untersuchen, welche diachronen Verschiebungen und gattungstheoretischen Besonderheiten sich jeweils in der Valenz des Anfangs nachzeichnen lassen.
Als Beitragsformate wären etwa denkbar:

1. Close readings von Einzeltexten, die in bestimmter Hinsicht exemplarisch für die Problematik des Anfangs sind.
2. Gattungssystematische Überlegungen zum Anfang in syn- oder diachroner Ausrichtung.
3. Gattungsübergreifende, vergleichende Studien zur Funktion und Struktur des Anfangs in unterschiedlichen literarischen Gattungen.
4. Literatur- und medientheoretische Überlegungen zum Anfang als literarischer Sinnfigur, zumal „die prekäre Ontologie des Textes als vorläufiger Gegenstand nirgends so evident wird wie im Paradox seines Anfangs“ (Polaschegg 2020: 101).
5. Geistes- und begriffsgeschichtliche Filiationen zur Präsenz und Wertigkeit von Anfängen.

Abstracts sollten maximal 4.000 Zeichen umfassen (einschließlich Leerzeichen und bibliographischer Angaben). Bitte senden Sie Ihren Vortragsvorschlag bis zum 31. Dezember 2022 an: mherold@uni-bonn.de & strohmai@uni-trier.de

Bibliographie:
Alt, Peter André: ,Jemand musste Josef K. verleumdet haben…‘. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, München 2020.
Aristoteles: Poetik, gr./dt., hg. und übs. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2002.
Beckett, Samuel: Endspiel. Fin de partie. Endgame, Frankfurt a.M. 1974.
Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Schumacher, Eckhard/Weingart, Brigitte (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004.
Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik III (= Werke 15), hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986.
Koschorke, Albrecht: „System. Die Ästhetik und das Anfangsproblem“, in: Grenzwerte des Ästhetischen, hg. v. Robert Stockhammer, Frankfurt a. M. 2002, 146–163.
Moliere: Œuvres complètes, 2 Bde., hg. v. Georges Couton, Paris 1971, II, 141–218.
Polaschegg, Andrea: Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst, Göttingen 2020.
Said, Edward: Beginnings. Intention and Method, New York 1975.
Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988.

Beitrag von: Paul Strohmaier

Redaktion: Robert Hesselbach