Musik zur Sprache gebracht. So lautet ein von Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann 1984 herausgegebener Band mit Texten zur Musikästhetik aus drei Jahrhunderten, der u. a. aufzeigt, dass die Musik seit jeher – dem Topos der Unsagbarkeit zum Trotz – zur Reflexion mittels Sprache verleitet. Umgekehrt bilden aber auch Texte über alle Epochen hinweg eine reichhaltige Grundlage für musikalische Kompositionen, sei es in der Vertonung, sei es in der musikalischen Ausgestaltung von ursprünglich verbal vorliegenden Narrationen (etwa in der sog. ‚Programmmusik‘). Solche Praxen legitimieren die kreative Umkehrung des genannten Titels: Sprache – zur Musik gebracht. Diese Transfers, diese Vermittlungen zwischen Sprache und Musik, ob künstlerisch oder metareflexiv gestaltet, stehen im Zentrum des Themenheftes n°9,1 (Jan. 2025) von ATeM.
Über die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Musik, zwischen Sprach- und Tonkunst türmt sich ein inzwischen unüberschaubares Schrifttum. Etliche Autor*innen, die vornehmlich linguistisch bzw. semiotisch arbeiten, fokussieren auf die Differenzen und (schon seltener) auf die Gemeinsamkeiten von Sprache und Musik und bieten somit einer kontrastiven Semiotik eine breite Materialbasis (cf. Bierwisch 2012, Overbeck/Heinz 2012). Gesungene Sprache und das Phänomen der Sangbarkeit führen in Linguistik (cf. Overbeck 2011, Schafroth 2012) und Translatologie (cf. Franzon 2015, Apter/Hermann 2016) zu je eigenen Fragestellungen. Literatur- und Kultur¬wissenschaftler*innen interessiert, wie literarische Texte auf Musik(stücke) Bezug nehmen, darüber sprechen oder diese imitieren können und welche Funktion, welche Bedeutung, welche Wirkung dem Diskurs über Musik in literarischen Texten zukommen kann (cf. Gess/Honold 2017, Odendahl 2019). Auch in Forschungsarbeiten zur Librettoforschung, zur Lyrikvertonung oder zum Verhältnis von Lyrik und Musik (cf. etwa Klinkert/Pevoski/Vittoz 2020) sind solche Aspekte von Belang. In der Musikwissenschaft bzw. den Music oder Sound Studies hat sich ein ausdifferenzierter terminologischer Apparat entwickelt, um über tönende Phänomene sprechen zu können (z. B. van Leeuwen 1999). Doch nicht nur das akademische Schrifttum, auch anders gelagerte Experten- und Liebhaberdiskurse nehmen auf die Interdependenzen von Sprache und Musik Bezug, etwa in (Aufführungs-)Kritiken (Stöckl 2011) oder interpersonalen Gespräche.
Im Themenheft von ATeM möchten wir Beiträge sammeln, die solche Übergänge von Musik zu Sprache (in der poetischen Allusion oder der metareflexiven Beschreibung, cf. Neumann 1986, Kehr 2021) sowie von Sprache zu Musik in den Fokus rücken. Die behandelten Beispiele (Texte, Musikstücke, etc.) sollen, wie es dem Profil der Zeitschrift entspricht, aus dem romanischen Kulturraum stammen.

Je nach Disziplin können folgende Fragestellungen als Ausgangspunkt dienen:

Sprachwissenschaft und Semiotik

  • zeichentheoretische Aspekte von Sprache und Musik auf allen semiotischen Ebenen (Syntaktik, Semantik, Pragmatik); Divergenzen und Gemeinsamkeiten
  • Merkmale gesungener Texte und deren ‚Sangbarkeit‘
  • Rolle prosodischer Elemente von Sprache bei der Vertonung
  • Phonation und Audition von Sprechen und Singen
  • Konstitution von Bedeutung im intermedialen Zusammenspiel von Sprache und Musik (inkl. Stimme) in verschiedenen Genres, Musikdiskursen (Programmhefte, Konzert¬rezensionen usw.) und Settings
  • Metaphorik in der Beschreibung und Charakterisierung des akustisch-sensorischen Phänomens Musik

Musikwissenschaft

  • Vertonung
  • Strategien zur Beschreibung des Phänomens Klang
  • musikalisch-ästhetischer Diskurs (bspw. Traktate, Kommentare, Rezensionen und Kritiken zu/über Musik, Aufführungskritiken)
  • Musikinteraktion: Wie trägt Sprache zu gemeinsamem music making bei? Wie werden problema¬tische Fragen bei der Aufführung von geschriebener oder improvisierter Musik behandelt (z. B. in Proben, im Unterricht, in Masterklassen)? Inwiefern stellt Musik selbst eine kommunikative Ressource in der Interaktion in nicht-musikalischen Umgebungen dar?
  • Semantik der Musik in den Paratexten von Komposition und Aufführung

Literatur- und Kulturwissenschaft

  • Musik als Sprache der Empfindungen (oder Affekte)
  • Formen des Sprechens über Musik in literarischen Texten
  • Versuche literarischer ‚Übersetzungen‘ von Musikstücken
  • intermediale Wechselwirkungen zwischen Musik und Literatur: Musik als form- und sinnstiftendes Element in allen Genres der literarischen Produktion / Literatur als Grundlage für musikalische oder musiko-literarische Produktionen
  • Narrativität in Sprache und Musik als gestalterisches Prinzip

Translation und Übersetzungswissenschaft

  • Übersetzung musikgebundener Texte (Opern, Lieder, Musicals etc.) und spezifische transla-torische Herausforderungen (Reim, Rhythmus, Phrasierung, Singbarkeit, Metaphern, Eigen-namen, Anredeformen etc.)
  • Analogie Übersetzer*in – musikalische/r Interpret*in bzw. Musiker*in – Übersetzer*in
  • Musikmetaphern in Übersetzervorworten und translationswissenschaftlichen Abhandlungen

Fristen und Beitragssprache

  • Beitragsvorschläge (Arbeitstitel plus Abstract, 250-300 Wörter exkl. Quellenverzeichnis): bis 29. Februar 2024 an gerhild.fuchs@uibk.ac.at oder monika.messner@uibk.ac.at
  • Sprache des Beitrags bzw. Abstracts: bevorzugt Französisch, Italienisch oder Spanisch; auch Deutsch oder Englisch sind möglich
  • Rückmeldung über Annahme: 31. März 2024
  • Beitragseinreichung (30.000–45.000 Zeichen inkl. Quellenverzeichnis): bis 30. Juni 2024
  • Peer Review: 1. Juli 2024 – 30. September 2024
  • Information über Reviews: Anfang Oktober 2024
  • Einreichung korrigierte Fassung: 31. Oktober 2024
  • Formatierung und Publikation: Dezember 2024–Januar 2025

Das Editionsteam dieser Nummer:
Agnetta, Marco / Fuchs, Gerhild / Mathis-Moser, Ursula / Mertz-Baumgartner, Birgit / Messner, Monika

Bibliographie
Apter, Ronnie / Herman, Mark: Translating for Singing: The Theory and Craft of Translating Lyrics. London: Bloomsbury, 2016.
Bierwisch, Manfred: „Sprache und Musik. Zeichentypen und ihre Konsequenzen“. In: Overbeck, Anja / Heinz, Matthias (Hg.): Sprache(n) und Musik. München: Lincom Europa, 2012. S. 3–21.
Dahlhaus, Carl / Zimmermann, Michael (Hg.): Musik zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten. München/Kassel: dtv/Bärenreiter, 1984.
Gess, Nicola / Honold, Alexander (Hg.): Handbuch Literatur & Musik. Unter Mitarbeit von Sina Dell’Anno. Berlin/Boston: De Gruyter, 2017.
Franzon, Johan: “Three Dimensions of Singability: An Approach to Subtitled and Sung Translations”. In: Proto, Teresa / Canettieri, Paolo / Valenti, Gianluca (Hg.): Text and Tune: On the Association of Music and Lyrics in Sung Verse. Bern: Peter Lang, 2015. S. 333–346.
Kehr, Johanna: Sprache im musikalischen Handlungskontext. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Dissertation, 2021.
Klinkert, Thomas / Pevoski, Anna / Vittoz, Numa (Hg.): Poésie et musique. Redaktionelle Mitarbeit und Verantwortung Ursula Mathis-Moser. Sondernummer von ATeM 5,2 (2020), DOI: https://doi.org/10.15203/ATeM_2020.
Leeuwen, Theo van: Speech, Music, Sound. Basingstoke: Macmillan, 1999.
Neumann, Peter: „Warum reden wir über Musik?“. In: Musik und Bildung 18, 1986. S. 223–224.
Odendahl, Johannes (Hg.): Musik und literarisches Lernen. Innsbruck: University Press, 2019.
Overbeck, Anja: Italienisch im Opernlibretto. Quantitative und qualitative Studien zu Lexik, Syntax und Stil. Berlin/Boston: De Gruyter, 2011.
Overbeck, Anja / Heinz, Matthias (Hg.): Sprache(n) und Musik. München: Lincom, 2012.
Schafroth, Elmar: „Sprache und Musik: Zur Analyse gesungener Sprachen anhand von Opernarien“. In: Overbeck, Anja / Heinz, Matthias (Hg.): Sprache(n) und Musik. München: Lincom, 2012. S. 39–58.
Stöckl, Hartmut: „An den Grenzen des Sagbaren. Schreiben über Musik – Sprachliche Ressourcen der Klangbeschreibung“. In: Kodikas/Code, Ars Semeiotica 34 (1-2), 2011. S. 143–163.

Beitrag von: Gerhild Fuchs

Redaktion: Robert Hesselbach