Stadt: Konstanz

Frist: 2024-04-15

Beginn: 2024-09-30

Ende: 2024-10-02

URL: https://www.litwiss.uni-konstanz.de/kraume/aktuelles/detailseite-news/call-for-papers-1/

CfP: Transozeanische Imaginationen
Universität Konstanz, 30. September – 02. Oktober 2024

(English see below)

Die Ozeane werden in der geisteswissenschaftlichen Forschung zunehmend als Orte nicht nur physischer, sondern auch symbolischer Überschreitungen territorialer, nationaler, regionaler, kultureller und epistemologischer Grenzen betrachtet, wobei der Ozean selbst als Ort der Fluidität verstärktes Interesse erfährt (Benítez-Rojo 1989 [engl. 1992]; Glissant 1990; Gilroy 1993; Steinberg 2001; Walcott 1988). Dieser oceanic turn (DeLoughrey 2016) in den Geistes- und Sozialwissenschaften findet vor dem Hintergrund eines allgemein wachsenden Interesses an „Wasserkörpern“ wie eben Ozeanen, aber auch Meeren, Flüssen, Archipelen oder Seen statt (Blackmore/Gómez 2020; Cohen/Quigley 2020; Moraña 2022) und zielt auf die Entwicklung einer Epistemologie, die den Ozean als eine durch nicht-menschliche und menschliche, biologische und geophysikalische, historische und zeitgenössische Aspekte immer wieder aufs Neue unternommene Rekonstitution begreift (Steinberg 2013: 157). Vor diesem Hintergrund hat die jüngere Forschung unter dem Stichwort „Hydrokritik“ ein kritisches Paradigma zur Analyse kollektiver Imaginationen von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart entwickelt, das nicht nur von der historischen Bedeutung von Schifffahrt, Häfen, Inselterritorien oder auch Entwässerungssystemen ausgeht, sondern Wasser und ozeanische Bahnen ausdrücklich auch als metaphorische Mittel in den Blick nimmt (Moraña 2022).
Die Abwendung von nationalstaatlichen Ortsbezügen verbunden mit einer Hinwendung zu transozeanischen Imaginationen ist charakteristisch für dekoloniale Ansätze, insbesondere im Kontext der environmental studies (z.B. Rauscher 2023). Dabei haben sich geopoetics (White 1989; Maximin 2006; Balasopoulos 2008; Modeen/Biggs 2021) bzw. ecopoetics als emotional-kognitive Ortsbezüge hervorgetan, die eng mit ökologischen Fragestellungen verknüpft sind. Der schottisch-französische Dichter und Philosoph Kenneth White, einer der umstrittenen Pioniere des Konzepts (Modeen/Biggs 2021: 23-24), verbindet die Poetik nicht nur mit der Geografie, sondern auch mit der Biologie und der Ökologie und beschreibt geopoetics als „a place […] where poetry, thought and science can come together“ (White 1989).
Von zentraler Bedeutung sowohl für diese geopoetischen Fragen in einem allgemeinen als auch für ozeanische Imaginationen in einem konkreteren Sinne ist das Konzept der Archipelisierung des aus Martinique stammenden Philosophen und Schriftstellers Édouard Glissant. Die Vorstellung von der Archipelisierung impliziert ein nicht-systematisches und relationales Denken, das über nationale Grenzen hinausgeht. Im Verlauf der verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung (Ette 2012) haben sich Glissant zufolge transnationale Regionen gebildet, in denen Hybridisierungs- und Kreolisierungsprozesse stattfinden (Glissant 1996). Bereits lange vor dem Aufkommen der_ environmental studies_ in den letzten Jahrzehnten hat Glissant (wie auch die ebenfalls aus der Karibik stammenden Schriftsteller Derek Walcott oder Antonio Benítez-Rojo) den Ozean somit als einen Ort der Ströme und des Fließens jenseits der territorialen und rechtlichen Beschränkungen des Staates theoretisiert. Die Karibik als eine Region, die auf eine Geschichte beschleunigter und verdichteter Prozesse von Globalisierung, Migration und transkultureller Verflechtungen zurückblickt (Müller 2012) und in der postkoloniale und ökologische Anliegen in besonderer Weise aufeinandertreffen (Ferdinand 2019, engl. 2022; Sheller 2020), hat sich auf diese Weise als privilegierter Ort für geopoetische Theoriebildung hervorgetan. In jüngerer Zeit haben geo- und ökopoetische Ansätze allerdings zunehmend auch in Bezug auf das Mittelmeer Anwendung gefunden (Kinoshita 2014; Bernhard/Kraske/Nelting 2015; Fabris/Göschl/Schneider 2023). Auch der Pazifik (Hau-ofa 1994; DeLoughrey 2007; Torres-Rodríguez 2019; Jetñil-Kijiner/Kava/Santos Pérez 2022) und nicht zuletzt auch der Indische Ozean sind in den zurückliegenden Jahrzehnten unter ähnlichen Vorzeichen analysiert und theoretisiert worden. So hat der aus Mauritius stammende Dichter, Filmemacher und Kulturtheoretiker Khal Torabully etwa Glissants Karibik-zentrierte Poetik der Relation (1990) und die in ihr angesprochenen Verflechtungen auf die indische Diaspora erweitert. Mit seinem Konzept der coolitude (Torabully 1992; Carter/Torabully 2002) versucht er, denjenigen von der Geschichte Ausgeschlossenen eine Stimme zu geben, die sich nach der Abschaffung der Sklaverei unter Bedingungen extremer Ausbeutung als Lohn- und Kontaktarbeiter weltweit verdingen mussten, und schafft so in lyrischer Verdichtung ein Netzwerk von Orten, das die Inseln und Städte Indiens, Chinas und Ozeaniens mit den europäischen Kolonialhäfen zu einer imaginären Landschaft verbindet (Torabully 1996: 13; Ette 2012, 291-293).
Vor diesem Hintergrund fragt die geplante Konferenz nach den transozeanischen Imaginationen sowie den ihnen zugrunde liegenden Austauschbewegungen, welche die vielfältigen Verbindungen zwischen den Literaturen und Kulturen der Welt manifest werden lassen. Imaginationen laden physisch-materielle Orte mit Bedeutungen auf und konkretisieren sich in schriftlichen und mündlichen, akustischen und visuellen Ausdrucksformen durch spezifische (ästhetische) Praktiken, die sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite liegen. Über den klassisch transatlantischen Fokus hinaus sollen vor der Folie der skizzierten kulturtheoretischen Ansätze insbesondere Imaginationen des transpazifischen Kontakts zwischen Lateinamerika und Asien, der transmediterranen Verbindungen zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Orient sowie des über den Indischen Ozean hinweg stattfindenden Austauschs zwischen Afrika, Australien und Asien in den Blick genommen werden.
Die Ergebnisse der Tagung sollen in eine Veröffentlichung münden, die 2025 als programmatischer erster Band der Reihe „Transozeanische Literatur- und Kulturbeziehungen“ bei Rombach Wissenschaft publiziert werden wird. Abstracts für Vorträge (max. 400 Wörter) werden bis zum 15.04.2024 an miriam.lay-brander@ku.de und anne.kraume@uni-konstanz.de erbeten. Die Benachrichtigung über Annahme oder Ablehnung der Vorschläge wird bis zum 30.04.2024 erfolgen. Die Deadline für die Einreichung der Aufsätze für den zu publizierenden Band wird der 15.01.2025 sein. Konferenzsprachen werden Englisch, Spanisch und Französisch sein.

Organisatorinnen:
Prof. Dr. Anne Kraume (Universität Konstanz)
Prof. Dr. Miriam Lay Brander (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)


CfP: Transoceanic Imaginations
Konstanz University, September 30 – October 02, 2024

In humanities research, the oceans are increasingly viewed as sites not only of physical but also symbolic transgressions of territorial, national, regional, cultural and epistemological boundaries, with the ocean itself experiencing increased interest as a site of fluidity (Benítez-Rojo 1989 [engl. 1992]; Glissant 1990; Gilroy 1993; Steinberg 2001; Walcott 1988). This_ oceanic turn_ (DeLoughrey 2016) in the humanities and social sciences is taking place against the backdrop of a generally growing interest in “water bodies” such as oceans, but also seas, rivers, archipelagos or lakes (Blackmore/Gómez 2020; Cohen/Quigley 2020; Moraña 2022) and aims to develop an epistemology that understands the ocean as a reconstitution undertaken again and again through non-human and human, biological and geophysical, historical and contemporary aspects (Stein-berg 2013: 157). Against this background, recent research has developed a critical paradigm for analyzing collective imaginations from the colonial era to the present under the heading of “hydrocriticism”, which not only takes the historical significance of shipping, ports, island territories or drainage systems as its starting point, but also explicitly considers water and oceanic pathways as metaphorical means (Moraña 2022).
The rejection of nation-state references to place combined with a turn towards transoceanic imaginaries is characteristic of decolonial approaches, particularly in the context of environmental studies (e.g. Rauscher 2023). In this context, geopoetics (White 1989; Maximin 2006; Balasopoulos 2008; Modeen/Biggs 2021) and ecopoetics have emerged as emotional-cognitive references to place that are closely linked to ecological issues. The Scottish-French poet and philosopher Kenneth White, one of the controversial pioneers of the concept (Modeen/Biggs 2021: 23-24), links poetics not only with geography, but also with biology and ecology and describes geopoetics as „a place […] where poetry, thought and science can come together” (White 1989).
Central to both these geopoetic questions in a general sense and oceanic imaginaries in a more concrete sense is the concept of archipelization by the Martinique-born philosopher and writer Édouard Glissant. The notion of archipelization implies a non-systematic and relational thinking that transcends national borders. According to Glissant, in the course of the various phases of accelerated globalization (Ette 2012), transnational regions have formed in which hybridization and creolization processes take place (Glissant 1996). Long before the emergence of environmental studies, Glissant (like the Caribbean writers Derek Walcott and Antonio Benítez-Rojo) theorized the ocean as a place of flows and fluxes beyond the territorial and legal limitations of the state. As a region that looks back on a history of accelerated and condensed processes of globalization, migration and transcultural entanglements (Müller 2012) and in which postcolonial and ecological concerns collide in a particular way (Ferdinand 2019, 2022; Sheller 2020), the Caribbean has thus emerged as a privileged site for geopoetic theorizing. More recently, however, geopoetic and ecopoetic approaches have increasingly been applied to the Mediterranean as well (Kinoshita 2014; Bernhard/Kraske/Nelting 2015; Fabris/Göschl/Schneider 2023). The Pacific (Hau-ofa 1994; DeLoughrey 2007; Torres-Rodríguez 2019; Jetñil-Kijiner/Kava/Santos Pérez 2022) and, not least, the Indian Ocean have also been analyzed and theorized under similar auspices in recent decades. For example, the Mauritian-born poet, filmmaker and cultural theorist Khal Torabully extended Glissant’s Caribbean-centered Poetics of Relation (1990) and the interdependencies it addresses to the Indian diaspora. With his concept of coolitude (Tora-bully 1992; Carter/Torabully 2002), he attempts to give a voice to those excluded from history who, after the abolition of slavery, had to work as wage and contact laborers worldwide under conditions of extreme exploitation, thus creating a network of places in lyrical condensation that connects the islands and cities of India, China and Oceania with the European colonial ports to form an imaginary landscape (Torabully 1996: 13; Ette 2012, 291-293).
In light of this, the planned conference explores the transoceanic imaginations and the underlying movements of exchange that make the diverse connections between the world’s literatures and cultures manifest. Imaginations charge physical-material places with meanings and concre-tize themselves in written and oral, acoustic and visual forms of expression through specific (aesthetic) practices that lie on both the production and reception side. In addition to the classic transatlantic focus, against the backdrop of the cultural-theoretical approaches outlined above, particular attention will be paid to imaginations of the transpacific contact between Latin America and Asia, the trans-Mediterranean connections between Europe, Africa and the Middle East, and the exchange between Africa, Australia and Asia that takes place across the Indian Ocean.
The results of the conference will lead to a publication that will be published in 2025 as the programmatic first volume of the series “Transoceanic Literary and Cultural Relations” by Rombach Wissenschaft.
Abstracts for presentations (max. 400 words) are requested by 15.04.2024 to miriam.lay-brander@ku.de and anne.kraume@uni-konstanz.de. Notification of acceptance or rejection of proposals will be made by 30.04.2024. The deadline for submission of essays for the volume to be published will be 15.01.2025. The conference languages will be English, Spanish and French.

Organizers:
Prof. Dr. Anne Kraume (University of Konstanz)
Prof. Dr. Miriam Lay Brander (Catholic University of Eichstätt-Ingolstadt)

Bibliography
Balasopoulos, A. (2008): “Nesologies: Island form and postcolonial geopoetics.” Postcolonial Studies 11(1): 9-26.
Benítez-Rojo, Antonio (1992): The Repeating Island: The Caribbean and the Postmodern Perspective, Durham: Duke University Press.
Bernhard, Gerald/Kraske, Katharina/Nelting, David (2015): “Italienische und französische Lite-raturwissenschaft“. Handbuch der Mediterranistik. Systematische Mittelmeerforschung und disziplinäre Zugänge. Eds. Miran Drabag/Nikolas Jaspert, Achim Lichtenberger und Dieter Haller, 171-179.
Blackmore, Lisa/Gómez, Liliana (Eds.) (2020): Liquid ecologies in Latin American and Caribbean art, New York; London: Routledge, Taylor & Francis Group.
Carter, Marina/Torabully, Khal (2002): Coolitude. An Anthology of the Indian Labour Diaspora. London: Anthem Press/Wimbledon Publishing Company.
Cohen, Margaret/Quigley, Killian Colm (Eds.) (2020): The aesthetics of the undersea. New York; London: Routledge, Taylor & Francis Group.
DeLoughrey, Elizabeth (2007): Routes and Roots. Navigating Caribbean and Pacific Island Literatures, Honolulu: University of Hawai’i Press.
______ (2016): „The oceanic turn: submarine futures of the Anthropocene“, in Joni Adamson, Michael Davis (Eds.): Humanities for the Environment. Integrating knowledge, forging new constellations of practice, London: Routledge, 242-258.
Ette, Ottmar (2012): TransArea: Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin; Boston: De Gruyter.
Ferdinand, Malcom (2022): Decolonial ecology: thinking from the Caribbean world, übersetzt aus dem Französischen von Anthony P. Smith, Cambridge, UK: Polity.
Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Glissant Édouard (1996): Introduction à une poétique du divers, Paris: Gallimard.
______ (1990): Poétique de la Relation. Poétique III, Paris: Gallimard.
Hau-ofa, E. (1994): “Our sea of islands.” The Contemporary Pacific 6(1):147-161.
Jetñil-Kijiner, Kathy/Kava, Leora/ Santos Perez, Craig (Eds.) (2022): Indigenous Pacific Islander Eco-Literatures (The New Oceania Literary Series). University of Hawaii Press, Honolulu.
Kinoshita, Sharon (2014): “Mediterranean Literature.” A Companion to Mediterranean History. Eds. Peregrine Horden und Sharon Kinoshita. New York: John Wiley, 2014, 314–329. https:/doi.org/10.1002/9781118519356.ch20.
Maximin, D. (2006): Les fruits du cyclone: Une géopoétique de la Caraïbe. Paris: Seuil.
Modeen, M./Biggs, I. (2021): Creative Engagements with Ecologies of Place. Geopoetics, Deep Mapping and Slow Residencies. London and New York: Routledge.
Moraña, Mabel (Ed.) (2022): Hydrocriticism and Colonialism in Latin America. Water Marks, London: Palgrave Macmillan.
Müller, Gesine (2012): Die koloniale Karibik. Transferprozesse in hispanophonen und franko-phonen Literaturen, Berlin; Boston: De Gruyter.
Rosemberg, M. (2016): “La géopoétique d’Édouard Glissant, une contribution à penser le monde comme Monde.” Espace géographique 45(4): 321-334.
Sheller, Mimi (2020): Island Futures. Caribbean Survival in the Anthropocene, Durham; Lon-don: Duke University Press.
Steinberg, Philip E. (2013): ‘Of other seas’, Atlantic Studies 10.2, 156–69.
Steinberg, Philip E. (2001): The Social Construction of the Ocean. Cambridge: Cambridge Uni-versity Press.
Torabully, Khal (1996): „The Coolies’ Odyssey“, in: The Unesco Courier (Paris) (October 1996), 13.
Torabully, Khal (1992): Cale d’Etoile – Coolitude. La Réunion: Editions Azalées.
Torres-Rodríguez, Laura J. (2019): Orientaciones transpacíficas: la modernidad mexicana y el espectro de Asia. Chapel Hill: North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures.
Walcott, Derek (1988): Collected Poems, 1948–1984. New York: Noonday.
White, K. (1989): “Presentation of the International Institute of Geopoetics” https://www.institut-geopoetique.org/en/presentation-of-the-institute (05.01.2024).

Beitrag von: Anne Kraume

Redaktion: Julius Goldmann