Konferenz im Rahmen des DFG-Projekts “Reisende BIbliotheken. Transatlantische Wissensordnungen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert”

„L’Océan, qui s‘élève entre nos hémisphères, / A donc mis entre nous d’impuissantes barrières“ , klagt die peruanische Protagonistin Alzire nach der spanischen Eroberung ihres Heimatlandes in Voltaires gleichnamiger Tragödie aus dem Jahr 1736. Der atlantische Ozean hatte nach den europäischen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten im 15. und 16. Jahrhundert tatsächlich keine unüberwindbare Barriere mehr dargestellt. Dennoch symbolisiert er weiter die vor allem von Europa aus gedachte Grenze zwischen ‚neuer‘ und ‚alter‘ Welt und steht insofern repräsentativ für die trotz der räumlichen Annäherung fortbestehende intellektuelle Distanz zwischen den Hemisphären. Schon im 16. Jahrhundert war in Europa eine Debatte über die Natur des vermeintlich neuen Kontinents und seiner Bewohner entbrannt, die etwa in dem Disput von Valladolid (1550/51) zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda oder in Montaignes Essay „Des Cannibales“ aus dem ersten Buch der Essais (1588) ihren Ausdruck gefunden hatte. Und auch in den sich an die ‚Entdeckung‘ und Eroberung der fernen Weltgegenden anschließenden Jahrhunderten bleibt das Verhältnis von Europa zum amerikanischen ‚Anderen‘ von einem oxymorischen Wechselspiel zwischen Hinwendung und Abgrenzung geprägt. Als daher im 18. Jahrhundert das Bild des Menschen ins Zentrum des Interesses rückt, scheint es den europäischen Aufklärern unausweichlich, ihre anthropologischen Fragestellungen in einem transatlantischen Sinne auszuweiten. In seiner wegweisenden Untersuchung La disputa del Nuovo Mondo (1955) hat Antonello Gerbi gezeigt, wie sich der Fokus der europäischen Debatte um Amerika im 17. und 18. Jahrhundert von philosophischen, theologischen und politischen Aspekten zunehmend auf die naturwissenschaftliche Frage nach der Beschaffenheit und dem Wesen der Natur des neuen Kontinents verlagert. Die ‚neue‘ Welt Amerikas dient in den europäisch geführten Diskussionen dabei vor allem als Kontrastfolie – als ein Vehikel, das benutzt wird, um die eigene Zivilisation aus einer vermeintlich naiven Außenperspektive zu betrachten. So entsteht die Idee eines ‚bon sauvage‘, der zwar moralisch aufgewertet wird, den Europäern aber dennoch untergeordnet bleibt. Dass nun ein solches vermeintliches Wissen über den (kolonialen) Anderen nur zu oft narrativ konstruiert wird, hat in jüngerer Zeit Karen Struve in ihrer wissenspoetologischen Studie zum Umgang der Encyclopédie mit Alterität (2020) gezeigt. Es kann deshalb nicht überraschen, dass vor dem Hintergrund der von der aufklärerischen Wissenschaft so intensiv betriebenen Auseinandersetzung mit der ‚Neuen Welt’ auch in der zeitgenössischen Literatur sowohl europäischer als auch amerikanischer Provenienz eine intensive Beschäftigung mit Amerika stattfindet. Auch hier wird Wissen über den transatlantischen ‚Anderen‘ vermittelt, und zwar sowohl in historischen Vorworten als auch in den literarischen Texten selbst. An dieser Schnittstelle zwischen Wissensvermittlung und Literatur setzt unsere Konferenz an, um das Verhältnis von Wissen und Literatur in der transatlantischen Aufklärung neu auszuloten.

Programm

09:00 Anne Kraume/Julia Schlicher (Universität Konstanz): Einführung

09:30 Helge Kreisköther (Fern-Universität Hagen): Sur nos bords l’amour vole et prévient nos désirs – Kursorisches Close Reading und operngeschichtliche Betrachtung der Nouvelle Entrée – Les Sauvages als Schlussakt von Rameaus/Louis Fuzeliers Les Indes galantes (1735/36)

10:15 Julia Schlicher (Universität Konstanz): Amerika in Kontext und Kommentar. Literarische Wissenstradierung in Voltaires Alzire (1736) und Françoise de Graffignys Lettres d’une Péruvienne (1747)

11:00 ~ Kaffeepause ~

11:30 Paul Strohmaier (Universität Trier): ‘Pour être humain, il faut s’être reconnu faible’. Universalismus des Gefühls und Poetik des attendrissement in Marmontels Les Incas, ou la destruction de l’Empire du Pérou (1777)

12:15 Robert Fajen (Universität Halle): Der Doppelkontinent in der Traummaschine. Über drei venezianische Amerika-Imaginationen um 1750/60

13:00 ~ Mittagspause ~

14:30 Jan-Henrik Witthaus (Universität Kassel): Alterität im Spätkolonialismus. Diskurse über die Indigenen im spanischen 18. Jahrhundert

15:15 Hanna Nohe (Universität Bonn): Amerikanische Identifizierung durch Begegnungen in der contact zone und fingierte Dialogizität: El lazarillo de ciegos caminantes (1775/76) von Alonso Carrió de la Vandera

16:00 ~ Kaffeepause ~

16:30 Anne Kraume (Universität Konstanz): Entre París y la pampa. Amerika in der argentinischen Literatur des 19. Jahrhunderts

17:15 Hendrik Schlieper (Universität Paderborn): Im ‘archipel carcéral’: Amerika als Strafkolonie in der französischen Literatur von Prévost bis Zola

18:00 Abschlussdiskussion

Beitrag von: Anne Kraume

Redaktion: Robert Hesselbach