„Choix Goncourt de l’Allemagne“: einzigartiges Lehr- und Lernprojekt, das Studierende an Romanischen Seminaren in ganz Deutschland verbindet – mit der aktuellen französischen Literatur und untereinander, initiiert von Freiburg aus. Abschlussveranstaltung des ersten Jahrgangs und Kür von Gaël Faye, Jacaranda, in der Französischen Botschaft in Berlin, 07.03.2025
Stadt: Freiburg
URL: https://romanistik.uni-freiburg.de/rs-web/home/das-seminar/aktuelles/444
Konzept des „Choix Goncourt de l’Allemagne“
Deutschland wird allgemein als das wichtigste Partnerland Frankreichs in Europa wahrgenommen, war aber erstaunlicherweise sehr lange ein weißer Fleck auf der Landkarte der „Choix Goncourt internationaux“. Der „Prix Goncourt“ ist bekanntlich der wichtigste französische Literaturpreis, der alljährlich im November von der Académie Goncourt für einen Roman verliehen wird, ausgewählt von den zehn Mitgliedern der Académie, deren Einrichtung – genauso die der Preis – auf eine testamentarische Verfügung von Edmond de Goncourt zurückgeht. Dies ist so seit 1903. Seit 1914 wird der Preisträger-Roman gekürt und öffentlich bekanntgegeben im Restaurant Drouant im zweiten Arrondissement von Paris, unweit der Opéra Garnier. Was aber ist der „Choix Goncourt international“?
Seit über 25 Jahren lesen im Rahmen der immer zahlreicher werdenden, immer mehr Länder und Regionen einbeziehenden „Choix Goncourt internationaux“ Studentinnen und Studenten im universitären Kontext, also vor literaturwissenschaftlichem Hintergrund, aber mit literaturkritischem Ziel, Romane von einer der Long- oder Shortlists des Prix Goncourt und wählen ‚ihren‘ Siegerroman. Dann diskutieren sie gemeinsam mit Studentinnen und Studenten aus anderen Universitäten ihres jeweiligen Landes, um am Ende den Siegerroman des jeweiligen Landes zu küren. Diese einzelnen „choix“ veröffentlicht die Académie Goncourt auch auf ihrer Webseite, und nicht selten machen Verlage des Landes dann mit diesem Preis auch Werbung für die später Übersetzung des Romans. Außerdem können sich Studierende – je mehrerer, turnusmäßig wechselnder Länder – mit einer Kritik um einen Platz „Chez Drouant“ bewerben, und die Gewinner dürfen die Preisverleihung des nächstjährigen Prix Goncourt live und in situ mitverfolgen.
Tatsächlich gibt es in allen Nachbarländern Deutschlands – mit Ausnahme von Luxemburg und Dänemark – einen „Choix Goncourt“, aber nicht in Deutschland selbst. Oder sagen wir besser: Es gab ihn nicht. 2023, im Jahr des 60. Jahrestags der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags – des Vertrags, der die Besiegelung der deutsch-französischen Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg markiert –, hat Henning Hufnagel als Professurvertreter am Romanischen Seminar der Universität Freiburg Kontakt zur Académie Goncourt und zur Französischen Botschaft in Deutschland aufgenommen und die Initiative ins Leben gerufen, einen „Choix Goncourt de l’Allemagne“ einzurichten. Schon bald haben sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland dieser Initiative angeschlossen: an insgesamt 21 Universitäten in allen 16 Bundesländern, in jedem Land mindestens eine Universität; der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ deckt also das gesamte Gebiet der Bundesrepublik ab.
Am 1. Oktober 2024 ist er auf einer Pressekonferenz in der Zentrale des Institut français in Paris offiziell als 40. „Choix Goncourt international“ vorgestellt worden; die Académie Goncourt stellt ihn ebenfalls auf ihrer Webseite vor:
Auf der Webseite des Romanischen Seminars der Universität Freiburg wird er in einem Video in zwei Minuten auf Französisch erklärt:
Das Video ist auch direkt auf youtube abrufbar:
Was steht hinter dieser Initiative? Zum einen greift der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ spezifische Traditionen der deutschen Romanistik auf, zum anderen stärkt er ihre Internationalisierung, und dies tut er innovativ auf der Ebene der Studentinnen und Studenten. Insofern diese Initiative Studentinnen und Studenten nicht nur an das aktuelle literarische Leben in Frankreich heranführt, sondern sie auf einer transnationalen Ebene daran selbst teilhaben lässt, eröffnen sich neue didaktische und literaturwissenschaftliche Möglichkeiten.
Traditionell beschäftigt sich die deutsche Romanistik auch mit der aktuellen Gegenwartsliteratur, anders als es die „critique universitaire“ in Frankreich lange Zeit hielt. Diese romanistische Tradition reicht bis zu den ‚mythischen‘ Figuren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück – wie Leo Spitzer, Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius. Während letzterer heute in der gesamten akademischen Welt für Die europäische Literatur und das lateinische Mittelalter (1948) berühmt ist, analysiert eines seiner frühen Bücher, das bereits während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht wurde, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, unter anderem Gide und Claudel, denen Curtius bereits 1925 Aufsätze über Marcel Proust und Paul Valéry hinzugesellte.
Umso überraschender ist es, dass ein „Choix Goncourt de l’Allemagne“ so lange auf sich warten ließ. Mit umso größerem Elan ist er im Wintersemester 2024/25 gestartet worden: Am ersten Durchlauf 2024 haben sich vierzehn Universitäten aus elf Bundesländern mit über 150 Studierenden beteiligt (während die restlichen sieben Universitäten – und vielleicht noch weitere? – im nächsten Jahr dazustoßen sollen), in alphabetischer Reihenfolge der Bundesländer und den jeweils verantwortlichen Personen in Klammern:
- Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg (Prof. Dr. Andreas Gelz, PD Dr. Henning Hufnagel)
- Universität Passau (Prof. Dr. Marina O. Hertrampf)
- Freie Universität Berlin (Prof. Dr. Ulrike Schneider)
- Humboldt-Universität Berlin (Prof. Dr. Marie Guthmüller)
- Universität Potsdam (Prof. Dr. Cornelia Klettke, Dr. Cordula Wöbbeking)
- Universität Bremen (Prof. Dr. Karen Struve, Dr. Ina Schenker)
- Justus-Liebig-Universität Gießen (Prof. Dr. Kirsten von Hagen)
- Universität Rostock (Prof. Dr. Stephanie Wodianka)
- Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Prof. Dr. Ursula Hennigfeld, Lénaïck Bidan)
- Universität Münster (Prof. Dr. Cerstin Bauer-Funke, Dr. Virginie Pektas)
- Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (Prof. Dr. Gregor Schuhen, Lars Henk)
- Universität Trier (Prof. Dr. Folke Gernert, Dr. Hannah Schlimpen)
- Universität Leipzig (Prof. Dr. Uta Felten)
- Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Robert Fajen)
So bietet der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ den Studentinnen und Studenten eine Erfahrung mit Literatur, die an der Universität normalerweise nicht gängig ist, und schafft ein Netzwerk unter jungen Französischleserinnen und -lesern in ganz Deutschland: Er dient dem Erwerb und der Praxis von Kompetenzen im Rahmen ihrer universitären Ausbildung, und er eröffnet auch die Möglichkeit, dies als Chance zu nutzen, persönliche literarische Bildung zu erwerben und zu erweitern.
Der erste „Choix Goncourt de l’Allemagne“ geht an Gaël Faye mit seinem Roman Jacaranda: Auswahlsitzung am 07.03.2025 in der Französischen Botschaft in Berlin
Ab Beginn des Wintersemesters haben sich die Studentinnen und Studenten – in je auf die curricularen Bedürfnisse vor Ort abgestimmten Kursen – erst mit dem „Prix Goncourt“ und der aktuellen Longlist beschäftigt, bevor sie – ab der Bekanntgabe am 22. Oktober 2024 – die vier Finalisten-Romane gelesen und auf Französisch diskutiert haben.
Am 07. März 2025 – im internationalen Monat der Frankophonie – hatten je zwei Delegierte aus jeder Universität die Gelegenheit, in der Französischen Botschaft in Berlin zusammenzukommen, um dort in der Runde der vierzehn Universitäten für die Wahl ihres Kurses – wiederum auf Französisch – zu werben und schließlich gemeinsam einen Sieger-Roman auszuwählen.
Philippe Claudel, der Präsident der Académie Goncourt, der aus persönlichen Gründen leider nicht in Berlin vor Ort sein konnte, schaltete sich per Video zu, um den delegierten Studentinnen und Studenten zu schildern, wie die Académie Goncourt bei ihrer Auswahl vorgeht – und welches Lesepensum ihre Mitglieder bewältigen, um den ungefähr 1500 Romanen, die in Frankreich jedes Jahr erscheinen, gerecht zu werden…
Dann war die Reihe an den Studentinnen und Studenten. Unter der Moderation von Véronique Barondeau, der Leiterin des Berliner Korrespondentenbüros des ARTE-JOURNAL, entspann sich sehr schnell eine lebhafte, kontroverse, auch fundamental unterschiedliche Konzeptionen und Anforderungen an Literatur gegeneinander in Stellung bringende Diskussion. Mit den Rückmeldungen aus den verschiedenen Universitäten waren drei Romane ungefähr ähnlich stark ins Rennen gegangen. Nach mehreren Debattenrunden stimmte eine deutliche Mehrheit für Gaël Fayes Roman Jacaranda, der um den Völkermord an den Tutsi in Ruanda kreist.
Diese Entscheidung wurde beim anschließenden Empfang in der Residenz des Botschafters – mit Blick auf den Pariser Platz und das Brandenburger – verkündet. Daran nahmen neben den delegierten Studentinnen und Studenten auch zahlreiche der Dozentinnen und Dozenten teil, welche die Kurse das Semester über betreut hatten: Es waren wohl noch nie so viele Romanistikstudentinnen und -studenten aus so vielen unterschiedlichen Universitäten gemeinsam an einem Ort, und wohl noch nie so viele Romanistinnen und Romanisten zugleich in der Französischen Botschaft.
Im Beisein von Thomas Michelon, dem Kulturrat und Leiter des Institut français in Deutschland, und Véronique Charléty, der Wissenschaftsattachée, gaben Zoé Michel (FU Berlin) und Arthur Ramos (HU Berlin), welche die delegierten Studentinnen und Studenten zuvor zu ihren Sprechern gewählt hatten, folgende Begründung:
Faire un choix s’est avéré très difficile. Cependant, après un long débat, le choix Goncourt de l’Allemagne s’est finalement porté sur Jacaranda de Gaël Faye.
Pourquoi ?
Comme le dit Marguerite Duras : « Écrire, c’est hurler sans bruit. » C’est précisément ce que fait Gaël Faye en brisant le silence générationnel d’une nation meurtrie avec son roman Jacaranda. Jacaranda explore les séquelles du génocide rwandais à travers le regard de Milan, confronté au silence d’un peuple tout entier et aux non-dits familiaux.
La voix de Milan est une voix très douce, une voix qui prend le lecteur par la main et le guide à travers l’histoire sombre du Rwanda. Ce roman répond ainsi à un double objectif : à la fois mémoriel et didactique. C’est un récit bouleversant où mémoire, identité et transmission s’entrelacent, où Gaël Faye interroge la complexité du deuil et de la réconciliation.
Le roman se distingue par son écriture sobre, un choix stylistique qui constitue aussi un geste éthique. En adoptant une langue dépouillée d’artifices littéraires excessifs, Gaël Faye restitue la gravité et la profondeur de cette tragédie sans en altérer la portée. Par ailleurs, cette simplicité rend le texte plus accessible à un public étranger.
Porté par une écriture à la fois accessible et saisissante, ce roman trouve alors un équilibre subtil entre douleur et espoir, laissant une empreinte durable.
Wenn Gaël Faye zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Jacaranda nach Deutschland kommt, ist geplant, ihm die Auszeichnung seines Romans als ersten „Choix Goncourt de l’Allemagne“ persönlich zu verleihen. Im nächsten Wintersemester startet dann der zweite „Choix Goncourt de l’Allemagne“.
Auf der Webseite der Académie Goncourt und der Universität Freiburg sind Fotos von der Veranstaltung zu sehen:
Beitrag von: Henning Hufnagel
Redaktion: Robert Hesselbach