Fotografie und (Post-)Kolonialität: visuelle Repräsentationen kolonialer Begegnungen in interkultureller Perspektive
Interculture Journal: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien ruft auf zur Einreichung von Beiträgen auf Deutsch, Englisch oder Französisch für die Ausgabe 02/2026 zum Thema Fotografie und (Post-)Kolonialität: visuelle Repräsentationen kolonialer Begegnungen in interkultureller Perspektive. Dieses Themenheft widmet sich der Rolle von Fotografie als zentralem Medium der (Post-)Kolonialität und begrüßt Beiträge, die sich mit visuellen Repräsentationen kolonialer Begegnungen aus einer interkulturellen Perspektive auseinandersetzen. Dabei können sowohl historische als auch zeitgenössische fotografische Praktiken untersucht werden, um das Medium der Fotografie im (post-)kolonialen und interkulturellen Diskurs zu verorten. Das eingeklammerte Präfix „(Post-)“ verweist darauf, dass das Koloniale als historische und andauernde Machtstruktur zwar nicht immer offensichtlich, aber stets gegenwärtig ist und für eine anzustrebende Dekolonisierung von Gesellschaft und Kultur dekonstruiert werden muss. Das Themenheft fragt nach Schnittstellen zwischen Fotografie, (Post-)Kolonialität und Interkulturalität und eröffnet damit eine bislang noch unzureichend untersuchte Forschungsperspektive, die an gegenwärtige bundesdeutsche wie internationale Debatten über das unzureichend aufgearbeitete kulturelle „Erbe“ des Kolonialismus anknüpft.
Die Erfindung der Fotografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts fällt in eine Zeit großer Dynamik des kolonialen Projekts der europäischen Mächte. Die koloniale Expansion machte sich das noch junge Medium der Fotografie für politische, machtpolitische und legitimatorische Zwecke zu Nutzen. Auch die sich disziplinär ausdifferenzierenden Wissenschaften, insbesondere Anthropologie, Ethnologie, Naturgeschichte und Geografie, beteiligten sich an diesem Projekt der Neu-Ordnung und Kartierung der Welt, das im Laufe des 19. Jahrhunderts ein reiches Repertoire an Bildern des Fremden hervorbrachte. Dabei konsolidierten koloniale Fotografien bestimmte Stereotype und Vorstellungen von Minderwertigkeit der kolonisierten Völker und ihrer Heimatländer in den Köpfen der Europäer*innen, wie Eleanor Hight und Gary Sampson (2004: 1) herausgearbeitet haben. Elizabeth Edwards weist außerdem hin, dass die Rolle der Kolonialfotografie v. a. darin bestand, „visuelle Zeugen für wissenschaftliche Beobachtungen zu schaffen und Taxonomien zu produzieren“ (2003: 337). Fotografien aus der Kolonialzeit gehören zu jenen umstrittenen Objekten und Bildern, die seit einigen Jahren Gegenstand öffentlicher Debatten über den Umgang mit dem kolonialen „Erbe“ sind. In Völkerkundemuseen und ethnologischen Sammlungen werden Fotografien inzwischen weitgehend als Kulturgut anerkannt, dessen Funktion über das rein Dokumentarische hinausgeht. Neben materiellen Kulturgütern oder menschlichen Überresten sind auch Fotografien im Zusammenhang mit dem Umgang mit Artefakten und Objekten aus kolonialen Kontexten mehr und mehr in den Fokus gerückt, u. a aufgrund ihrer Entstehungskontexte unter Zwang und Gewalt. So werden Fotografien beispielweise im Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten als „kulturhistorisch sensibles Kulturgut“ im Hinblick auf mögliche Ansprüche der Herkunftsgesellschaften bezeichnet. Im gleichen Leitfaden wird auch auf das Potenzial von Fotografien hingewiesen, „eurozentrische Denkweisen zu überwinden und die Wechselseitigkeit in den historischen Entwicklungen hervorzuheben“ (2021: 26). Die meisten der in Museen und Archiven aufbewahrten Fotografien, dienten der kolonialen Propaganda, z. B. auch durch öffentliche Verbreitungsformen von Fotografien z. B. als Postkarten. Sie spiegeln die gemeinsame Geschichte kolonisierter und kolonisierender Völker mit ihren bis heute wirksamen vielfältigen Verflechtungen wider und gelten als Teil ihres gemeinsamen Erbes. Die Verbreitung dieser Bilder wird jedoch häufig kontrovers diskutiert, je nachdem, ob sie sich im Raum der Kolonisierten oder im Raum der Kolonialherren befinden (Kokou Azamede, 2016). Um einen interkulturellen Dialog darüber zu ermöglichen, ist es wichtig, jedes einzelne dieser Bilder unter Berücksichtigung seiner soziokulturellen und historischen Dimension zu lesen. Die Fotografie stellt zweifelsohne ein interkulturelles Grundphänomen dar, wie Sergej Seitz, Anke Graneß und Georg Stenger aufzeigen, denn in den menschlichen Gemeinschaften und Kulturen finden sich stets bestimmte Formen und Praktiken bildlicher Darstellungen, die sich zudem als Ausdrucksformen der jeweiligen Welt- und Selbstansichten lesen lassen (2018: 8). Fotografien aus kolonialen Kontexten stellen daher nicht nur visuelle Aufzeichnungen von Kulturkontakten und begegnungen im Sinne kolonialer Machtrepräsentation dar, sondern weisen auch Spuren komplexer inter und -transkultureller Verflechtungen auf. In Anlehnung an Gesine Krüger können koloniale Bildbestände damit als Palimpsest betrachtet werden, „weil sich in ihnen viele Bedeutungen, Lesarten und Verwendungsweisen überlagern und aufschichten und nicht einfach einander ablösen“ (2013: 8). Das Interesse an Kolonialfotografie als historischer und vielschichtiger Quelle unterstreicht die Dringlichkeit einer kritischen Auseinandersetzung und Aufarbeitung. Ansätze der Visual Culture Studies (Nicholas Mirzoeff, 1999) üben Kritik an den Bildern, den damit verbundenen gesellschaftlichen Bildpraktiken und ihrer Verwobenheit mit postkolonialen oder machtpolitischen Aspekten (Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach und Bernd Stiegler, 2014: 10). Koloniale Abbildungsformen lassen sich somit als „Hybride“ begreifen, in denen Deutungszusammenhänge verschiedener kultureller Praktiken eingeflossen sind (Jens Jäger, 2009: 178).
Ausgehend von kolonialen Bildquellen soll im Rahmen des geplanten Themenhefts aufgezeigt werden, wie diese neben ihrer Verstrickung mit dem brutalen Eroberungswillen des Kolonialismus, der militärischen Unterwerfung und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, auch Potenziale für Prozesse der kulturellen Aneignung von Lebensweisen und Selbstverständnissen aufweisen und so zu interkulturellen Identitätskonstruktionen in den Kolonien beitragen können.
Diese Perspektive wirft u. a. folgende Themen und Fragestellungen auf:
- Koloniale Bildpolitiken und fotografische Repräsentationen interkultureller Begegnungen
- Potenziale und Herausforderungen für Kolonialfotografien als Zeugnisse interkultureller Verflechtungen und Aushandlungsprozesse
- Potenziale dekolonialer Perspektiven für die Neupositionierung kolonialer Bildsammlungen
- Kreative Rezeptions- und Aneignungsformen kolonialer Bildsammlungen bzw. Bilderwelten durch zeitgenössische Künstler*innen und Aktivist*innen
- Museale Präsentationspraktiken und kuratorische Strategien bezüglich kolonialer Bildbestände und dekolonialer Auseinandersetzungen
Wir laden Forschende aus verschiedenen Disziplinen, u. a. aus den Geschichts-, Kultur- und Bildwissenschaften, den postkolonialen Studien, aus Anthropologie und interkultureller Kommunikationsforschung, ein, Beiträge zu diesem Themenkomplex vorzuschlagen, insbesondere
- historische und zeitgenössische Fallstudien zur fotografischen Repräsentation interkultureller Begegnungen;
- konzeptuelle und empirische Beiträge zur Bedeutung von Fotografie im kolonialen und post-kolonialen Kontext;
- Restitution und digitale Rekontextualisierung kolonialer Fotografien;
- dekoloniale Perspektiven auf historische Archive und Sammlungen;
- widerständige und alternative Lesarten kolonialer Fotografien;
- postkoloniale künstlerische, aktivistische sowie kuratorische Auseinandersetzungen mit Kolonialfotografien.
*Wissenschaftler*innen, die an diesem Aufruf interessiert sind, sind dazu eingeladen, Vorschläge für Beiträge einzureichen. Abstracts (max. 500 Wörter) sowie eine Kurzbiografie (max. 150 Wörter) reichen Sie bitte bis zum 30. August 2025 per Email an die Herausgeber (nkoudavalentin@gmail.com / christoph.vatter@uni-jena.de) ein. Vollständige Artikel werden bis zum 10. Januar 2026 erwartet. Wir freuen uns auf Ihre Mitwirkung!*
Herausgeber des Themenhefts:
- Romuald Valentin Nkouda Sopgui, nkoudavalentin@gmail.com, (Dozent für deutsche Literaturwissenschaft- und Landeskunde, Deutsche Fachrichtung, Abteilung für Fremdsprachen, Pädagogische Hochschule, Universität Maroua, Kamerun)
- Christoph Vatter, christoph.vatter@uni-jena.de, (Lehrstuhl für interkulturelle Wirtschaftskommunikation mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Kommunikations-forschung, Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Literaturverzeichnis:
Azamede, Kokou. 2016. « La photographie et la propagande coloniale. Regards actuels sur les images coloniales d’Afrique : le cas du Togo allemand. » In Intermédialité en situation coloniale et postcoloniale : l’exemple du Togo allemand, Mont Cameroun : revue africaine d’études interculturelle sur l’espace germanophone, éds. Yigbe Dotsé, et Glasman Jöel, 41–56. Hors-série, N°1.
Deutscher Museumsbund, Hrsg. 2021. Leitfaden. Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen, Berlin.
Edwards, Elizabeth. 2003. „Andere ordnen. Fotografie, Anthropologien und Taxonomien.“ In Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, hrsg. von Herta Wolf, 335–355. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Hight, M. Eleanor, D. Gary Sampson 2004. “Introduction. Photography, ‘Race’, and Post-Colonial Theory.” In Colonialist Photography: Imag(in)ing Race and Place, eds. M. Eleanor Hight, D. Gary Sampson, 1–19. Routledge: London.
Jäger, Jens. 2009. Fotografie und Geschichte. Campus Verlag: Frankfurt am Main.
Krüger, Gesine. 2013. „Zirkulation, Umdeutung, Aufladung. Zur kolonialen Fotografie.“ In NCCR Mediality. Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven, Newsletter 9: 3–11.
Mirzoeff, Nicholas. 1999. An introduction to Visual Culture. Routledge: London, New York.
Rimmele, Marius, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler. 2014. „Vorwort.“ In Bildwissenschaft und Visual Culture, hrsg. von Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach und Bernd Stiegler, 9–11. Transcript: Bielefeld.
Seitz, Sergej, Anke Graneß, Georg Stenger. 2018. „Bildtheorie und Interkulturalität.“ In Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven, hrsg. von Sergej Seitz, Anke Graneß und Georg Stenger, 1–18. Springer VS: Wiesbaden.
Beitrag von: Christoph Vatter
Redaktion: Ursula Winter