Johanna Borek (1951-2025) - Intellektuelle Leidenschaft und Radikalität
Johanna Borek (1951-2025) – Intellektuelle Leidenschaft und Radikalität
In vielen Gesprächen ist immer wieder deutlich geworden: Johanna Borek war ein einmaliger Mensch, wie man ihn in universitären Kreisen kein zweites Mal getroffen hat. Trotz aller intellektuellen Schärfe war sie im Kern unakademisch, hat auf universitäre Rituale und äußeres Prestige wenig gegeben, sich von institutionellen Regeln und Hierarchien nie einschüchtern lassen. Ihre Dissertation und Habilitation haben nicht umsonst die Titel getragen: Sensualismus und Sensation. Zum Verhältnis von Natur, Moral und Ästhetik in der Spätaufklärung und im Fin de Siècle (Böhlau 1983) bzw. Kulturtransfer in der Romania – aufklärerische Tradition, Intellektuelle und Institutionen (Universität Wien 1999). Viele dieser Schlüsselbegriffe waren auch ihre Lebensprinzipien. Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit, Intensität und Autonomie, Aufklärung und Institutionenkritik, Unkonventionalität und Radikalität im Denken, Fühlen und Handeln sind für uns alle untrennbar mit Johanna verbunden.
Johanna war eine der wenigen durch und durch wienerisch und romanisch geformten Intellektuellen der deutschsprachigen Romanistik, die savoir vivre, intellektuelle Strenge und exzessive Leidenschaftlichkeit miteinander zu verbinden wussten. Ihre Intellektualität war als Kind einer ins Theatermilieu aufgestiegenen Schneider:innenfamilie tschechischer Herkunft von ihrem in vielerlei Hinsicht bewegten Leben geprägt, ein Leben, das von Wien nach Innsbruck und Basel, Nürnberg, Bochum und Köln und von Wien nach Paris, Bari und Pavia zweimal wieder zurück nach Wien geführt hat. Ihre Wohnung in der Zollergasse, die ihr Vater Jaromír in fußläufiger Distanz zum Volkstheater organisiert hatte, bildete für sie stärker als ihr Büro an der Romanistik ein intellektuelles und emotionales Zentrum aus, das sie während ihrer Gastdozenturen in Paris und Neapel, Leipzig und Dresden gerne Freund:innen und ehemaligen Studierenden zur Verfügung stellte.
Ihre Intellektualität hatte nichts Schweres, sondern eine geistige Impulsivität, die das Bedeutsamste mit einem Humor zu verbinden wusste, der alle Sinne und den ganzen Körper durchdringen konnte. Dieses Naturell spiegelte sich auch in ihrer Lehre wider, die ausgehend von ihrer Liebe zur Aufklärung sowie zu Paris, Sizilien und Neapel durch eine starke Öffnung zur Kultur des Widerstands und des Populären, zur frühneuzeitlichen Novellistik wie zur Kriminalliteratur und zum Kino und freilich auch zum Theater und Übersetzen geprägt war: ‚Passato e presente‘: Luchino Visconti hieß ihr letztes Seminar im Sommer 2022. Andere Titel lauteten: Ein kleiner Toskaner macht Karriere im Ausland: ‚Pinocchio‘ und ‚Pinocchio‘-Übersetzungen oder Pier Paolo Pasolini und Leonardo Sciascia: Disorganische Intellektuelle auf Freibeuterei, zwei Weitere: Libertinage et lecture, ou La séduction du roman: ‚Les Liaisons dangereuses‘ revisitées oder Beruf: Intellektueller. Denis Diderot for ever.
Die genannten Titel machen auch Johannas Liebe zur Sprache selbst deutlich. Plastizität und Präzision, Prägnanz und Poetik, Lust und Humor, Sarkasmus und Theatralität waren ihr sprachlich stets genauso wichtig wie die Inhalte. Entsprechend gestalteten sich auch ihre Lehrveranstaltungen in einem eigenen emphatischen Stil. Sie waren außergewöhnlich originell und sensualistisch angelegt: Wurden die normalen Sitzungen stets von Rauchpausen unterbrochen, so endeten die Veranstaltungen meist in Form intensiver Wochenendblocks, die eine besondere intellektuelle und atmosphärische Nähe, wenn es sein musste auch Chaos zugelassen haben. Nicht zu vergessen: Der Hörsaal wurde nicht nur mit geistiger, sondern stets mit angekarrten Einkaufswägen vom Billa auch mit Nahrung für den Körper ausgestattet.
Als leidenschaftliche 18ièmiste und Theaterfrau war Johanna eine Meisterin der Unberechenbarkeit und Überraschung: Selten verlief ein Treffen so, wie man es sich erwartet hatte. Besprechungen von Seminar- und Abschlussarbeiten, die – wenn der Lektüre wert – ausführlich und emphatisch kommentiert waren, fanden mitunter im von Rauchschwaden durchsetzen Café Ingrid, per Telefon oder bei ihr zu Hause statt. Noch wenige Monate vor ihrem ersten Spitalsaufenthalt konnte aus einem kurz verabredeten Kaffee ein 10stündiges Treffen werden. Temperamentvoll und fordernd war sie in ihren Entscheidungen auch sich selbst gegenüber bis zum Schluss. Schon um 2000 herum hatte sie zu Spuren, Indizien, Markenzeichen. Funktionen des Rauchens bei Simenon und Fruttéro & Lucentini (in: Kriminalromania, hg. H. Pöppel, Stauffenburg 1998) publiziert und in ihrem Seminar zu Italo Svevo und den Anfängen der Psychoanalyse in Italien über die letzten Zigaretten des Zeno Cosini reflektiert. Doch wer hätte gedacht, dass sie eines Tages wirklich ganz zum Rauchen aufhört?
Johanna war ihr Leben lang ein exzessiver und engagierter Mensch, der seinen Beruf mit vollem Leben zu erfüllen trachtete. Dafür kann ihre frühe Forschung zur Aufklärung, zum Widerständigen, u.a. bei Antonio Gramsci und Pier Paolo Pasolini stehen, die sie eng mit Birgit Wagner verbunden hat. Auch hier offenbaren die Titel eine besondere Freude an der Sprache, an der Poetik des Konzisen und Fragmentarischen, aber auch des Imaginären und Nebulösen: Gramsci, Pasolini. Ein imaginärer Dialog (Verlag für Gesellschaftskritik 1987) heißt eine zu dritt kollektiv verfasste Monographie von Johanna, Birgit Wagner und Sonja Puntscher-Riekmann aus den späten 1980er Jahren, wohl der erste umfassende romanistische Beitrag zur Gramsci- und Pasolini-Forschung. Der Verstand und die Gefühle. Eine Träumerei – so Johannas Beitrag in dem von ihr mit Birge Krondorfer und Julius Mende herausgegebenem und für die Gramsci-Forschung wegweisenden interdisziplinären Band Kulturen des Widerstands. Texte zu Antonio Gramsci (Verlag für Gesellschaftskritik 1993).
Titel von Aufsätzen aus den darauffolgenden Jahrzehnten sind: Namen und Öffentlichkeitsräume. Diderot als Paratext (in: Kulturtransfer im Epochenumbruch, hg. H.-J. Lüsebrink, Leipziger Universitätsverlag 1997) und Staging Life. On Da Ponte’s Memorie (Maske und Kothurn 52, 2006), Der Übersetzer ist weiblich und damit unsichtbar. Übersetzen als ein Herrschaftsverhältnis, unter anderem (in: Quo vadis Romania 7, 1996) und Grenzverschiebungen. Ein Baustein für eine Geschichte des Übersetzens im Mittelmeerraum (in: Napoli Vienna – Wien Neapel. Movimenti die frontiera, hg. Kollektiv, Loffredo 2009), Erzählen als Gesellschaftsspiel. Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Boccaccio, Basile (und Calvino) (in: Giovan Battista Basile e l’invenzione della fiaba, hg. A. Messerli u.a., Longo 2004), Tausendundeine Nacht, Joseph von Hammer-Purgstall und die République des lettres (Mythos – Paradies – Translation, hg. Chr. Laferl u.a., Transcript 2018) und Pinocchio, Cuore, Gian Burrasca. Zeitschriften und Romane für die Kinder des geeinten Italien (in: Serialität und Moderne, hg. D. Winkler u.a., Transcript 2018) sowie Et qu‘est-ce que nous raconte le cinéma sur le théâtre? A propos de Va savoir de Jacques Rivette (in: Formes du narratif dans le théâtre, hg. Kollektiv, Yeditepe Üniversitesi 2008) und Gender und Genre. Zumpolar (in: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, hg. S. Schrader u.a., Schüren 2009).
Johanna hat darüber hinaus neben Einzelübersetzungen, u.a. Denis Diderot. Briefe. 1742-1781 (Insel-Verlag 1984) und Henri Meschonnics Rhythmus-Texte (Der Prokurist 19/20, 1998) an großen Übersetzungsprojekten mitgewirkt wie den von Hans Hinterhäuser, Peter Schnyder und Raimund Theis bzw. Michael Rössner herausgegebenen Gesamtausgaben von André Gide (DVA, 1989-2000) und Luigi Pirandello (Propyläen 1997-2000). Hier sind u.a. die in der Büchergilde Gutenberg und bei dtv wieder aufgelegte Gide-Übersetzung Stirb und Werde (1989-) oder ihre Pirandello-Übertragungen von Theaterstücken (u.a. Der Mann mit der Blume im Mund), der Sizilianischen Novellen oder des Romans Die Alten und die Jungen erschienen (1997, 1999, 2001). Engagiert und bestimmt war auch ihre jahrzehntelange politisch-gemeinschaftliche Aktivität: in der Übersetzergemeinschaft, als Gutachterin und in Gremien der Übersetzer:innenförderung der Stadt Wien bzw. für den Staatspreis für literarische Übersetzung, den sie 1994 selbst erhalten hatte, aber auch an der Universität Wien, u.a. als Mitglied von Gremien der Romanistik, als Gleichstellungsbeauftragte der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und Mitglied der Gewerkschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Kritische Universität.
Bei allem Bewusstsein ihrer außerordentlichen Sprachbegabung und intellektuellen Brillanz war ihr Umgang mit ihrer eigenen Forschung eher zurückhaltend und relativierend. Als wirkliche Intellektuelle stand ihre Liebe zur Sprache und Literatur wie ihre Praxis des leidenschaftlichen Lesens und kritischen Denkens weit voran an erster Stelle, durchlesene bzw. filmgeschaute Nächte inklusive. Auch hier waren bei ihr Literatur, Theorie, und Praxis eng verwoben: Für ihr Anliegen der Gesellschaftsrelevanz und Deutlichkeit kann exemplarisch ihre rororo-Monographie Denis Diderot stehen (Rowohlt 2000). Gleichzeitig war Johanna, geprägt von langen Vagabundinnenjahren, ein durch und durch internationalistischer Mensch. Radikal kosmopolitisch und interdisziplinär war ihre Forschungspraxis auf vielerlei Ebene: Über 20 Jahre lang bildete dabei die internationale Forschungsgruppe Spectacle Vivant et Sciences de l’homme an der MSH Paris ein wichtiges Kontinuum. Zweimal im Jahr hat sie sich in Form von Tagungen, Workshops und Festivals aus einer anthropologischen Perspektive theoretisch und praktisch mit Theater befasst – in Frankreich, Italien, Österreich und der Türkei, dokumentiert u.a. in den Bänden Corps du théâtre – Il corpo del teatro. Organicité, contemporanéité, interculturalité (Hollitzer 2010, hg. Ulf Birbaumer, Michael Hüttler, Guido di Palma) und Formes du narratif dans le théâtre. Hier, aujourd’hui, demain (Yeditepe Üniversitesi 2008, hg. Kollektiv).
Eine wesentliche Rolle spielte in diesen und anderen Kontexten auch Johannas Kooperation mit dem Wiener Don Juan Archiv und dem Hollitzer Verlag, geleitet von Michael Hüttler, für den sie in den 2010er Jahren die Dario Fo-Romane Christina von Schweden. Eine Hosenrolle für die Königin (2017) und Christian VII. Ein Narr auf dem Thron von Dänemark (2019) übersetzt hat, die ihr als kritischer Leserin einige Mühen abverlangt hatten. Wie beim Theater bildete das Übersetzen für Johanna nicht nur eine Praxis, sondern auch einen Gegenstand intellektueller Reflexion aus.
Wegwesend war dabei das EU-Projekt Europe as a Space of Translation (2008-10), das sie mit Camilla Miglio (Neapel) und Dieter Hornig (Paris) realisiert hat. Es ist wohl bis heute das einzige literatur- und kulturwissenschaftliche EU-Projekt an der Universität Wien, in dessen Rahmen nicht nur diverse Europa-, sondern vor allem interkontinentale Mittelmeerreflexionen vernetzt und dabei eine ganze Reihe wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen an den Universitäten Paris–Saint-Denis und Neapel–L’Orientale sowie auf Procida verwirklicht wurden. Unbedingt zu erwähnen dabei: die zwischen Akademie und Universität, Literaturhaus und Volkstheater abgehaltene Wiener Tagung Übersetzen im Mittelmeerraum. Konstruktionen und Dekonstruktionen von Okzident und Orient (12.15.11.09), umgesetzt u.a. mit Gudrun Rath und Juliane Zeiser. Eine kleine Auswahl der Vorträge wurde in dem Band Vienne, porta Orientis in den Presses Universitaires de Rouen et du Havre publiziert (Austriaca 74, hg. mit Dieter Hornig und Johannes Feichtinger).
Die letzte von Johanna organisierte Tagung hat intellektuell an dieses Übersetzungsprojekt angeschlossen und im Rahmen des Universitätsabkommens mit Neapel–L’Orientale vom 25. bis 26. Mai 2012 an der Wiener Romanistik stattgefunden, sowie zugleich eine Reihe von Kooperationen integriert (u.a. Spectacle Vivant, Don Juan Archiv, ÖAW). Sie trug paradigmatisch den Titel Theater und Theatralität in Wien und Neapel seit dem 17. Jahrhundert und hat sich mit intellektueller Leidenschaft und Radikalität der verbindenden Hoch- und Populärkultur, d.h. dem institutionellen, Dialekt- und Körpertheater sowie der ebenso barock grundierten Alltagstheatralität, Fest- und Performancekultur der beiden Metropolen gewidmet.
Wir alle haben Johanna mit leidenschaftlicher und bestimmter Stimme im Ohr. Kein Satz ohne gut gesetzte Pointe, kein Gespräch, das nicht in Windeseile von blitzgescheiten Formulierungen zu morbidem Humor, von Theatralität zu Melancholie, von scharfer Selbstironie zu schallendem Lachen wechseln konnte. Johannas für akademische Kreise unkonventionelle, begeisterte wie begeisternde Lebendigkeit ist einhergegangen mit einer lebenslangen intellektuellen Skepsis und persönlichen Distanz zur Universität als bürokratischem System (des System- und Machterhalts, des quantitativen Publizierens und poesielosen Reproduzierens etc.). Damit hat sie sich nicht nur Freund:innen gemacht, aber auf allzu leichte, ja billige Freundschaften hat Johanna nie Wert gelegt.
Beitrag von: Daniel Winkler
Redaktion: Daniel Winkler