Stadt: Wuppertal

Frist: 2025-11-30

Beginn: 2026-06-10

Ende: 2026-06-12

URL: https://www.romanistik.uni-wuppertal.de/de/transfer/maerchenreisen

Für die internationale Tagung “Märchenreisen. Kulturtransferprozesse zwischen der italienischen, französischen und spanischen Märchentradition” vom 10. bis 12. Juni 2026 an der Bergischen Universität Wuppertal werden Beiträge auf Deutsch, Englisch oder vorzugsweise einer romanischen Sprache (Italienisch, Französisch, Spanisch) gesucht. Wir bitten um Abstracts von 350–400 Wörtern bis spätestens zum 30.11.2025. Bitte fügen Sie außerdem eine akademische Kurzvita bei. Schicken Sie beides an die Organisatorinnen Dr. des. Selina Seibel (selina.seibel@ilw.uni-stuttgart.de) and Dr. Laura Wiemer (wiemer@uni-wuppertal.de). Die Reise- und Übernachtungskosten können voraussichtlich übernommen werden und eine anschließende Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Der Call for Abstracts ist auch als PDF-Dokument in den verschiedenen Beitragssprachen auf folgender Internetseite verfügbar:
https://www.romanistik.uni-wuppertal.de/de/transfer/maerchenreisen

Das Erzählen von Märchen setzt eine kulturelle, wenn auch imaginierte Erzählgemeinschaft voraus, die sich durch wirklichkeits-, sinn- und identitätsstiftende Erzählmuster und Erzählmotive als solche konstituiert. Dies geschieht einerseits unter den jeweiligen Rahmenbedingungen ihres Kulturraums, andererseits aber auch in Relation zu den Adaptions- und Transformationsprozessen, denen Märchenstoffe und Märchenmotive unterliegen, wenn sie in der entangled history (Conrad/Randeria 2002) als travelling narratives (Baumbach/Michaelis/Nünning 2012) zwischen Kulturräumen “reisen”. Demzufolge soll der Reisebegriff für die Tagung in einem dreifachen Sinne verstanden werden: Er umschließt sowohl adaptive trans- und intertextuelle Bewegungen der Märchenstoffe und -motive durch die Romania, als auch als konkrete geographische Reisen zahlreicher Märchenautor*innen. Darüber hinaus bildet der Reisetopos im Sinne eines rite de passage (van Gennep 1909) den Nukleus der Märchendiegese, der zugleich strukturell auf die anthropologischen Ursprünge des Märchens verweist (Propp 1987). Besonderes Augenmerk gilt auch deshalb den reisenden Bewegungen der Märchenfiguren, weil deren Mobilität zugleich Ausdruck der transkulturellen Migration der märchenhaften Stoffe und Motive ist, und folglich als Spiegel gesellschaftlicher, politischer und imaginärer Bewegungsräume verstanden werden kann.

Ziel der transromanisch und komparatistisch ausgerichteten Tagung ist es, das bisher wenig beachtete, obwohl raumgreifende Phänomen der Märchenreisen, also der Trias von wechselseitigem Stoff- und Motivtransfer zwischen italienischen, französischen und spanischen Märchen und märchenhaften Erzählsammlungen, den Reisen der Autor*innen und der Märchenfiguren selbst, in den Fokus zu rücken.

Märchenstoffe zeichnen sich durch eine außergewöhnlich hohe Adaptions- und Migrationsfrequenz aus. Dies belegen nicht zuletzt die seit dem 19. Jahrhundert systematisierten Typologien der folkloristischen Forschung, etwa der Aarne-Thompson-Uther-Index (ATU), der Märchentypen, wenn auch recht allgemein, über nationale, sprachliche und mediale Grenzen hinweg klassifiziert. Kaum ein anderes literarisches Stoffreservoir ist derart durch Wiederverwendung, Neukonfiguration, Hybridisierung und Gattungsüberschreitung geprägt; Märchen werden zu regelrechten “medium breakers” (Greenhill and Matrix 2010) und “shape shifters” (Tatar 2010, S. 56; Warner 1994). So werden sie vor allem im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug der dramatischen Gattungen (Theater, Oper, Melodram) zunehmend für die Bühne adaptiert und erobern nicht zuletzt durch die Walt Disney Company ab dem 20. Jahrhundert auch den cinematographischen Raum (Ayres 2003; Haas/Trapedo 2018) und nicht zuletzt das World Wide Web.

Indem Märchen Teil der kulturellen DNA sind – Zipes spricht hier von erinnerungshaftigen memes (2006) – verhandeln sie Grundthemen des menschlichen Daseins und Zusammenlebens (Rudy 2018) und bilden universelle Narrativrahmen aus, die oikotypisch adaptiert, aktualisiert und transformiert werden (Sydow 1934). Infolgedessen sind Märchen als narrativ-kommunikative Vektoren spezifischer historischer, sozialer, politischer, juristischer und ökonomischer sowie literarisch-poetologischer Reflexionsmomente zu verstehen. Insbesondere in Krisenzeiten reichern Märchen Lebensrealitäten mit Sinn an, reduzieren deren Komplexität und geben durch ihre magischen Erzählwelten Zuversicht und Identifikationspotenzial (Buttsworth and Maartje Abbenhuis 2017; Lopez-Ortíz 2014; Grätz 1995). Auf diese Weise werden Märchen zu utopistischen Sehnsuchtsorten, aber auch zu Instrumenten der Kritik und Subversion, indem sie etablierte Machtverhältnisse und Rollenverteilungen sowie tradierte Normen und Werte infrage stellen und alternative gesellschaftliche Visionen aufzeigen.

Zwar ist der Zirkulationsraum von Märchenstoffen global (Graça/Tehrani 2016; Johnson et al. 2021, S. 1), doch lässt sich in der Romania eine besonders hohe Dichte und Intensität des Stoff- und Kulturtransfers feststellen (Seago 2018, Trinquet 2012); nicht zuletzt durch den gemeinsamen lateinischen Ursprung, der sich beispielsweise in der kulturübergreifenden Rezeption von Apuleius‘ Amor und Psyche manifestiert (Bottigheimer 2014). Zwischen Italien, Frankreich und Spanien lassen sich seit dem 16. Jahrhundert vielfache Intertexte, Umdeutungen und Rückkopplungen nachweisen, die auf ein eng verflochtenes Netz literarischer Mobilität hindeuten. Dies schließt mit Gallands Übersetzung und Herausgabe von Les Mille et Une Nuits (1704-1717) auch ‘orientalische’ Stoffe und mit der Grimm-Rezeption auch die deutsche Märchentradition ein. Die Romania fungiert damit nicht nur als ein entscheidendes Transferfeld für narrative Motive, sondern auch als Laboratorium für poetologische, mediale und gesellschaftspolitische Transformationen des Märchens.

Hier bietet sich die Möglichkeit, aus diachronen und synchronen Perspektiven ab dem 16. Jahrhundert die jeweilige Verarbeitung der Stoffe in den Blick zu nehmen, um die spezifischen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten aufzeigen und interpretieren zu können. In der Forschungsliteratur wird dennoch das Ende des 17. Jahrhunderts als Schlüsselzeit der europäischen Märchenrezeption gefasst und Frankreich als geographischer Ausgangspunkt verortet. Dort hat Charles Perrault die über Jahrhunderte hinweg mündlich überlieferten Narrative in seinen Sammlungen Contes en vers (1694) und Histoires ou Contes du temps passé, avec des moralités bzw. Contes de ma Mère l’Oye (1697) fixiert und publiziert. Auch gattungspoetologische Fragen des literarischen Feenmärchens, der contes de fées, im Gegenzug zu mündlich tradierten Märchen, werden in dieser Zeit virulent, da sie den Prinzipien der klassizistischen vraisemblance-Doktrin entgegen gerichtet sind (Trinquet 2012).

Tatsächlich aber werden bereits im 16. Jahrhundert und zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Italien Märchensammlungen von Giovanni Francesco Straparola (Le piacevoli notti_, 1550-1553) oder Gimabattista Basile (_Il Pentamerone, 1634) schriftlich festgehalten, welche die französische Märchengenese des späten 17. Jahrhunderts und der spanischen maßgeblich beeinflussen (Seago 2018). Die Verschriftlichung dieser genuin mündlichen Gattung löst die Märchen jedoch keineswegs aus ihrer Oralität heraus, sondern sie avancieren vielmehr mit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich zum Unterhaltungs- und Distinktionsmoment der gesellschaftlichen Elite und zum festen Bestandteil der Salonkultur. Hier greifen vor dem Hintergrund der Querelle des femmes und der Schriftstellerinnengruppe der Précieuses aristokratische Damen wie Madame d’Aulnoy, Madame L’Héritier und Madame de Murat die italienische Märchentradition äußerst erfolgreich auf und transformieren sie zu einem Emanzipationsinstrument, welches sowohl auf soziokultureller wie politischer Ebene subvertierend wirkt. Im 18. Jahrhundert zeichnen sich die Märchen(sammlungen) ihrer Nachfolgerinnen wie Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (Magasins des Enfants ou Dialogues d’une sage gouvernante avec ses élèves, 1756) dann zunehmend durch ein pädagogisches Programm aus, da sie sich – wie die Kinder- und Hausmärchen (1812-1857) der Brüder Grimm – an ein junges und in Frankreich vorwiegend weibliches Lesepublikum richten, das mithilfe der Märchenliteratur erzogen werden soll. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich, werden bspw. mit Comtesse Stéphanie Félicité Genlis‘ Nouveaux contes moraux et nouvelles historiques (1805) in dezidiert feministische Märchenadaptionen überführt (Duggan 2018, S. 115). Auch in Italien lässt sich im 19. Jahrhundert eine Tradition der Sammlung und Erforschung regionalspezifischer Märchenvarianten beobachten, etwa Domenico Giuseppe Bernonis Fiabe e novelle popolari veneziane (1828) oder Giuseppe Pitrès Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani (1875).

Spanien war Ziel zahlreicher Bildungsreisen französischer Schriftstellerinnen wie Madame d’Aulnoy und der bisher eher unbekannten Catherine Bernard, welche in ihrem Roman Inès de Cordue (1696) die erste Version von dem heute Perrault zugeschriebenen Märchen Riquet à la houppe (1697) verfasst hat. Ebenfalls in Spanien hat Cecilia Böhl de Faber unter dem männlichen Pseudonym „Fernán Caballero“ Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten spanischen Volksmärchen in Cuentos y poesías andaluces (1859) und Cuentos, oraciones, adivinanzas y refranes populares (1877) gesammelt und geschrieben, nicht zuletzt unter dem “italienischen” und “französischen” Einfluss der Grimm’schen Märchen, mit denen sie durch ihre deutschen Wurzeln vertraut war.

Darüber hinaus reihen sich die spanischen Märchentexte nicht nur in die europäische Märchentradition ein, sondern durch den jahrhundertelangen ‘maurischen’ Einfluss in Süditalien und auf der Iberischen Halbinsel auch in die ‘orientalische’. Diese hat bekanntlich auch die französische Märchentradition nachhaltig geprägt, war es doch der Pariser Orientalist Antoine Galland, der die Erzählsammlung aus “1001 Nacht” Anfang des 18. Jahrhunderts erstmals in eine europäische und zwar die französische Sprache übersetzt und “französisch-abendländisch überformt” (Grätz 1995, S. 7) hat.

Diese Beispiele verdeutlichen das äußerst komplexe transromanische Phänomen des Kulturtransfers der Märchen. Es ist Anliegen der Tagung, die wechselseitigen und noch nicht erforschten Migrations-, Adaptions- und Rezeptionsprozesse von Märchenstoffen und -motiven in der entangled history zwischen Spanien, Italien und Frankreich sowie dem Nachbarland Deutschland im komparatistischen Austausch zu untersuchen und zu diskutieren.

Mögliche Fragestellungen

Märchen als Spiegel gesellschaftlicher Strukturen und Veränderungen: Welche politischen, sozialen oder ökonomischen Kontexte wirken sich auf die nationalen Märchentraditionen und die transnationalen Märchenreisen in der Romania aus? Welche Märchenstoffe und -motive sind spezifisch für die Kulturtransferprozesse zwischen Italien, Frankreich und Spanien (sowie Deutschland)? Lassen sich dabei bestimmte Stoffe oder Figuren – wie die gute Fee, der scheußliche animal groom – als besonders mobil und formbar im interkulturellen Austausch ausmachen? Welche Aktualisierungen, etwa im Bereich der Queer und Disability Studies, erhalten sie und auf welche soziopolitischen und kulturellen Hintergründe ist das zurückzuführen?

Märchen und Medienwandel: Wie hat sich die Rezeption von Märchen mit der Adaption in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Formaten auch im Hinblick auf das multimodale Erzählen verändert? Inwiefern verändert sich die Poetik, Funktion und ästhetische Form des Märchens im Zuge seiner Adaptionen in verschiedene mediale Formate – von der oral geprägten Erzählkultur über literarische Fixierungen bis hin zu multimodalen und digitalen Repräsentationen (Film, Graphic Novel, Computerspiel, Werbung, Social Media, KI)? Welche poetologischen, narrativen, affektiven und ideologischen Transformationen durchleben die Stoffe sowohl in medial dominanten Adaptionen wie denen der Walt Disney Company (Sleeping Beauty, Tangled) als auch unter dem Einfluss der KI, die Märchen neu und anders erzählen kann?

Postkoloniale Perspektiven: Welche Rolle spielen koloniale und ‘orientalistische’ Narrative in der transromanischen Märchentradition (Lau 2025), auch mit Blick in den frankophonen und lateinamerikanischen Kulturraum? Wie prägen Repräsentationen von Alterität, etwa in Villeneuves Contes marins und Beaumonts Magasin des enfants die Raum- und (Neben-)Figurenentwürfe? Wie gestaltet sich die Rezeption von Tausendundeine Nacht oder von Märchen mit ‘orientalischen’ Topoi (z.B. exotische, z.T. anthropomorphisierte Tiere, kulturelle Gepflogenheiten und Artefakte, Herkunft der Figuren)? Welche “colonial encounters” (Sago 2021) lassen sich auch in den Rahmenhandlungen erkennen? Inwiefern lässt sich die Präsenz von Ladino oder jüdisch-sephardischen Erzählmotiven als Ausdruck transkultureller Kontaktzonen (Pratt 1991) deuten, insbesondere im neapolitanischen oder iberischen Kontext?

Oralität und Kulturtransfer: Inwiefern beeinflusst die mündliche Tradierung von Märchen deren transkulturelle Migration zwischen Italien, Frankreich und Spanien? Wie verändert sich die narrative Struktur, wenn Märchen von einer oral geprägten Tradition in eine schriftliche Fixierung übergehen, insbesondere im Kontext des transromanischen Märchentransfers auf Grundlage des gemeinsamen lateinischen Ursprungs? Wie verändert sich durch die mediale Verschiebung von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit auch die Position der Erzählinstanz? Wie funktioniert Autorinszenierung in Texten wie Basiles Lo cunto de li cunti, Perraults Contes oder d’Aulnoys contes de fées – und wie greifen diese Inszenierungen auf rhetorische Konventionen zurück, die sowohl oral-tradierte Formen imitieren als auch kontrollieren? Wie wird durch die schriftliche Fixierung mündlich tradierter Stoffe eine neue narrative Ordnung etabliert, die häufig durch die Einbettung der Erzählung in einen Rahmen oder eine meta-diegetische Erzählsituation erfolgt? Welche Funktion übernimmt dabei der Handlungsrahmen wie der Hof, der Salon, die Schule?

Das Reisen von Figuren und die Genese der Narration: Welche semantischen Räume und Grenzen (Lotman 1972) durch- bzw. überqueren sie? Werden diese Räume transformiert, stabilisiert oder konterkariert? Wie verändern sich die Räume, wenn die auch die Märchenstoffe geographisch und temporal reisen? Inwieweit beeinflussen ökonomische und politische Krisen wie Kriege oder Hungersnöte die Reise-Räume der Märchen? Inwiefern lässt sich Reisen gar als eine Poetologie der märchenhaften Erzählungen verstehen, die stofflich-strukturell eine nahezu rituelle Dynamik zwischen separation, liminality und reincorporation (van Gennep 1909) evozieren?

Beitrag von: Laura Wiemer

Redaktion: Robert Hesselbach