Stadt: Zürich

Frist: 2017-01-15

Beginn: 2017-10-08

Ende: 2017-10-12

URL: http://www.romanistentag.de/index.php?id=1918

Organisation: Cornelia Wild (München), Hermann Doetsch (München)

Die Menge der Passanten ist im Paris des 19. Jahrhunderts die poetische Figur von Begegnung par excellence. Ihre Modernität besteht in der Dynamik der Ströme von Körpern, der Vielheit, der multitude, des Schwarms oder des Gewimmels, obwohl die Figur selbst – und im Unterschied zur Masse – eine Figur des Singulars ist. Durch die Assoziation mit der Bewegung des Hin und Her der Körper wie die Wogen des Meeres wurde sie poetologisch als „bain de multitude“ (Baudelaire) bestimmt und damit ihre verschiedenen Facetten wie Delirium, Rausch oder Fest ins Spiel gebracht.

Charakteristisch für die Menge ist, dass mit ihr der Ort der Begegnung immer auch vom Verschwinden bedroht ist: Unterschiedslos werden die Individuen von der Menge verschluckt, von der Passantin bis zum Kriminellen (Poe), die in der Anonymität untertauchen und unsichtbar werden. Offensichtlich tendiert die Menge dazu, ihre Konturen aufzulösen, aber gerade dadurch werden Prozesse der Figuration beobachtbar.

Doch die Menge der Passanten ist nicht nur ästhetischer Gegenstand, durch das 19. Jahrhundert hindurch in das 20. Jahrhundert ist sie auch Objekt der politischen Steuerung und Kontrolle (Foucault) und bildet, wie insbesondere Michel Serres und Eugen Thacker herausgearbeitet haben, eines der wichtigsten epistemologischen Objekte in der Neuorientierung der modernen Wissenschaft hin zu einem statistischen Paradigma in den Naturwissenschaften (Maxwell, Cauchy, Boltzmann), in der Medizin und Epidemiologie (Pasteur, Yersin) sowie in der Geschichtswissenschaft (Michelet, Marx) und der Soziologie (Le Bon, Tarde). So stellt die Menge einen komplexen Ort der Theorienbildung dar, die mit Figuren wie Ansteckung, Mannigfaltiges, Fluides oder Normalität operiert.

Das geschieht etwa dann, wenn die Menge zum Dispositiv moderner Wahrnehmung erklärt wird; sie dient als der „bewegte Schleier“ (Walter Benjamin) durch den hindurch Paris gesehen werden kann. Der Blick durch die Menge wird zu einem hermeneutischen Instrument: die Menge, die verdeckt, zeigt, was man ohne sie nicht gesehen hätte. Offensichtlich lässt sich die Figur der Menge nicht nur durch Momente wie das lustvolle Eintauchen oder die Auflösung bestimmen, sondern beinhaltet auch erkenntnistheoretische Versprechen, indem sich Menge und Medien gegenseitig durchdringen (Münz-Koenen/Schäffner). Neben der Lyrik (Baudelaire, Rimbaud) setzen sich im 19. und 20. Jahrhundert die Romane von romantischen über realistischen und naturalistischen bis hin zu modernen Schreibweisen (Hugo, Sue, Michelet, Balzac, Flaubert, Zola, Proust) immer wieder dem Faszinosum Menge und seinen ästhetischen, politischen und epistemologischen Dimensionen aus.

Nicht zuletzt durch die terroristischen Anschläge in Paris wurde die foule jäh wieder in den Blick gerückt (Jean-Claude Milner). Umso mehr sind wir aufgefordert, uns mit der ästhetischen und figurativen Komplexität, aber auch der epistemologischen und politischen Relevanz der Menge auseinanderzusetzen. Ausgehend von diesen ersten Beobachtungen und Behauptungen soll die Figur der Menge in der Sektion zum Gegenstand einer Reflexion werden, die sich über sechs verschiedene Themenfelder erstreckt:

1. Dispositive der Wahrnehmung (Rausch, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Schock, Trauma, Flüchtigkeit, Verschwinden, Delirium)
2. Epistemologie (Menge, Mannigfaltige, Fluide, Ansteckung, Multitude, Schwärme)
3. Semiotik (Kollektiv/Individuum, Flanerie, Stadt, Fest, Schleier)
4. Bildliche Prozesse (Tableaux parisiens, Denkbilder, Fotografie, Kino)
5. Metaphorisierung und Figuration (Vervielfältigung, Serialität, Reproduzierbarkeit, Hintergrund/ Vordergrund)
6. Topographie (öffentlicher Platz, Versammlung)

Kontakt: cornelia.wild@romanistik.uni-muenchen.de, hermann-doetsch@romanistik.uni-muenchen.de

Beitrag von: Cornelia Wild

Redaktion: Christof Schöch