Stadt: Venezia, Italien

Beginn: 2017-03-27

Ende: 2017-03-28

Der Workshop setzt das Nachdenken über den Ausnahmezustand als Prädisposition und als Sujet der Literatur fort, das bereits in dem Sammelband „Literatur des Ausnahmezustands“ für den Zeitraum 1914-1945 begonnen wurde. Auch jetzt wird der Ausnahmezustand in der Nachfolge Giorgio Agambens nicht nur als streng staatsrechtlich-technischer Begriff aufgefasst, sondern als die Vorbedingung zum Verständnis der Beziehung, in der sich die schwer konturier- und definierbare Sphäre des ‚Lebendigen‘ in der abendländischen Kultur (besonders seit dem Ersten Weltkrieg) an das Recht bindet – und in der sie sich zugleich an das Recht verliert.

Die Zäsur des 11. September 2001 wirft erneut und auf noch radikalere Weise die Frage nach dem engen, aber paradoxen Verhältnis von Gewalt und Leben sowie nach dem Verhältnis von Rechtsetzung und Suspendierung des Rechts im Ausnahmezustand auf, und sie verdichtet in ihrer Ereignishaftigkeit eine Katastrophenstimmung des abendländischen Zivilisationsmodells, die von ökonomischen und ökologischen Krisen und der durchgängigen Verunsicherung eines überspannten Freiheits- und Individualitätsbegriffs weiter genährt wird. Terror und „war on terror“ provozieren einen verbissenen Kampf um die Souveränität – sowohl des Staates als auch seiner Bürger. Im Schatten der Attentate von 9/11 gerät das affirmative ästhetische Konzept eines einsam streitenden Kämpfers gegen die abstrakte ökonomische Übermacht ins Zwielicht. Die Autonomie des Individuums erscheint einerseits angesichts der zunehmend totalitären Datenüberwachung als zu verteidigendes Gut, andererseits in der von der Technik potenzierten Entscheidungsmacht des Einzelnen über Leben und Tod als Teil eines alltäglichen Bedrohungsszenarios. Versteht man die Literatur in der Tradition der Avantgarde als Provokation eines Ausnahmezustands, oder auch nur als Verweis auf eine mögliche ‚Ethik der Ausnahme‘, so muss sie sich angesichts der Normalität des Katastrophendiskurses nach 9/11 neu positionieren. Das Gespräch will daher die Frage nach dem Ausnahmezustand in Bezug auf literarische Themen, Gestalten, Formen und ihre ästhetische Wirkung in der Gegenwart stellen und sich damit einer ästhetisch ebenso wie gesellschaftlich relevanten Frage unserer Zeit stellen.

veranstaltet von / a cura di Cristina Fossaluzza (Venezia) und Anne Kraume (Konstanz)

Programm

27. März 2017, 14.00-18.30 Uhr
Sala Marino Berengo, Ca’ Foscari, Dorsoduro 3246

14.00 Uhr Begrüßung und Einführung durch die Veranstalterinnen

I. Ethik und Ästhetik der Ausnahme (Moderation: Cristina Fossaluzza)
14.15 Uhr Barbara Beßlich (Heidelberg): Exotismus und Ausnahmezustand in Christian Krachts Imperium (2012)
15.00 Uhr Gregor Streim (Jena): Natur und Gewalt in Christoph Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes.

15.45 Uhr Kaffeepause

II. Heimat und Erinnerung (Moderation: Anne Kraume)
16.15 Uhr Hubert Thüring (Basel): Alpine Apokalypse. Heimat und Ausnahmezustand in Arno Camenischs Bündner Trilogie.
17.00 Uhr Cristina Fossaluzza (Venezia): Das Haus als Ort des Ausnahmezustands: Marius von Mayenburgs Eldorado (2004) und Der Stein (2008)
17.45 Uhr Daniela Nelva (Torino): “Ein Riß im Gewebe der Zeit”. Christa Wolfs Ein Tag im Jahr

28. März 2017, 9.00-12.30 Uhr
Sala Marino Berengo, Ca’ Foscari, Dorsoduro 3246

III. Grenzen und Brüche (Moderation: Anne Kraume)
9.00 Uhr Friederike Felicitas Günther (Erlangen): Ausnahmezustand im Kriminalroman
9.45 Uhr Arno Schneider (Bozen): Normbrüche im Werk von Saša Stanišić

10.30 Kaffeepause

IV. Komparatistische Perspektiven: Zwischen Ästhetik und Politik (Moderation: Cristina Fossaluzza)
11.00 Uhr Daniel Winkler (Dresden) Politische und ästhetische Grenzzonen im italienischen Migrationskino
11.45 Uhr Anne Kraume (Konstanz): Patria o muerte. Leben im Ausnahmezustand in der venezolanischen Gegenwartsliteratur

Beitrag von: Anne Kraume

Redaktion: Christof Schöch