Frist: 2018-12-31

Verräterische Verfahren der Verfremdung in der lateinamerikanischen Literatur der Postdiktatur
[in der Reihe Hispano-Americana, Berlin: Peter Lang]

Im Schatten des Kalten Kriegs ist Lateinamerika Schauplatz extremer politischer Konflikte und in vielen Ländern kommen Militärdiktaturen an die Macht, die sich durch äußerste Formen der Gewaltausübung gegenüber der Bevölkerung auszeichnen. Gewaltsam setzt sich auch ein neoliberales Wirtschaftssystem durch, das die gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Länder dauerhaft beherrscht. Das schwierige Erbe dieser Vergangenheit weist sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede auf, jedenfalls erweist sich der Übergang zur Demokratie als ambivalenter Prozess. Während zum Beispiel in Argentinien die literarische Auseinandersetzung mit dem Staatsterror bereits vor dem auf eine militärische Niederlage folgenden Zusammenbruch der Militärregierung und der Rückkehr zur Demokratie 1983 mit ästhetisch gebrochenen und fragmentierten Darstellungsformen (Dalmaroni 2004) einsetzt, bietet der „paktierte Übergang“ (Lechner/Güell 2004) zur Demokratie in Chile 1990, deren politisch-legalen Rahmen Pinochet selbst ausgestaltet hatte, eine andere Ausgangslage für die literarische Aufarbeitung, in der zunächst der referentielle Darstellungsmodus der testimonios der Überlebenden vorherrscht. Angesichts der jeweils unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexte lassen sich folglich auch keine länderübergreifenden linearen Phasen der literarischen Aufarbeitungstradition etablieren. Vielmehr zirkulieren ästhetische Verfahren in postdiktatorischen Zusammenhängen und werden je nach Kontext mit verschiedenen Funktionen und Bedeutungen aufgeladen.

Dieses pluriforme Repertoire ästhetischer Verfahren ist Ausgangspunkt des geplanten Sammelbands und soll aus poetologischer Perspektive in Hinblick auf Funktionen der Annäherung und der Distanzierung gegenüber dem jeweiligen Erzählgegenstand in den Blick genommen werden. Mit wachsender zeitlicher Distanz zu den historischen Ereignissen bilden sich Brüche innerhalb der literarischen Diskurse, divergente literarische Anliegen werden erkennbar und die Literaturen der Postdiktatur treten in die Phase der Revision ihrer eigenen literarischen Vorläufer. Gemeinsam ist ihnen dabei oft die merkliche Politisierung des Privaten im Sinne der Erforschung der subjektiven und psychologischen Folgen und Spätfolgen der Diktatur sowie das Einfordern von Rechenschaft von der Zivilgesellschaft. Unbequeme Figuren wie Komplizen, Mitläufer und Helfershelfer geraten in den Blick, auch und gerade im Rahmen der Frage nach der Verantwortung der eigenen – wenn präsenten, oftmals schweigenden – Elterngeneration, deren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von unterschiedlichen Prämissen und Erfahrungen geprägt wurde. Diese Themen verbinden sich mit der Suche nach ästhetischen Korrektiven, um traumatische Aspekte oder Leerstellen zu semiotisieren oder in anderen Fällen die Erinnerung an die Normalität der Diktatur zu verfremden. Gestörte Transmissionsprozesse werden durch verschiedene ästhetische Darstellungsmittel und Verfahren der Verfremdung wie die Überbetonung psychischer Prozesse, antimimetische und phantastische Illusionsbrüche, experimentelle Gestaltungen der Erzählzeit und metafiktionale Techniken vor Augen geführt. Annäherung und Distanzierung, Identifikation und Aversion werden im Gestaltungsspektrum der Erzählperspektive moduliert und diverse mehr oder weniger zuverlässige Erzählerfiguren wie Überlebende, Kinder, Täter, Verräter oder sogar Untote treten in Erscheinung um den kognitiven Zugang zum Erzählgegenstand zu verfremden, verabsolutierte Täter-Opfer-Dichotomien, insbesondere die landläufige Heroisierung der desaparecid@s und die Dämonisierung der sobrevivientes, aufzubrechen und allzu glatte Repräsentationen der Vergangenheit fragwürdig werden zu lassen. In diesem Sinn untersuchen die Beiträge des geplanten Sammelbands besonders saliente oder rekurrente gestalterische Mittel der ästhetischen Brechung der Diktaturerfahrung innerhalb lateinamerikanischer Literaturen sowie in vergleichender Perspektive deren Zirkulationen, Aneignungen und Resemantisierungen innerhalb unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Kontexte Lateinamerikas.

Wir freuen uns über die Zusendung Ihres Aufsatzvorschlags (ca. 400 Wörter inkl. Bibliographie) auf Deutsch sowie einer kurzen bio-bibliographischen Übersicht bis zum 31. Dezember 2018 an Sarah Burnautzki (burnautzki@phil.uni-mannheim.de) und Daniela Kuschel (kuschel@phil.uni-mannheim.de). Eine Rückmeldung erfolgt bis zum 31. Januar 2019.

Abgabetermin für die vollständigen Beiträge ist der 30. Juni 2019. Die Publikation des Sammelbands ist für Dezember 2019 in der Reihe Hispano-Americana im Verlag Peter Lang geplant.

Beitrag von: Sarah Burnautzki

Redaktion: Christof Schöch