Stadt: Mannheim

Frist: 2015-01-15

Beginn: 2015-07-27

Ende: 2015-07-29

URL: http://www.romanistentag.de

Sektionsleitung: Nicola Tschugmell, Johanna Wolf (Universität Salzburg)

Derzeit scheinen sich auf dem Feld der Spracherwerbsforschung vor allem zwei große Grammatiktheorien kontrovers gegenüberzustehen: Generative Grammatik und Konstruktions-grammatik. Während die GG von größtmöglicher Ökonomie bei Sprachverarbeitung und -produk-tion (z.B. geringe Verarbeitungskosten von automatisierten syntaktischen im Vergleich zu semantisch-lexikalischen Prozessen), speziell in Bezug auf Spracherwerb, ausgeht, scheint das Prinzip der Effizienz im usage-based Ansatz der KG auf den ersten Blick nicht so prominent zu sein.

Betrachtet man jedoch den Erstspracherwerb, und hier besonders den gestörten Erstspracherwerb, gehen einige Forscher davon aus, dass Ökonomie eine entscheidende Rolle spielt, so etwa im Rahmen der Computational Complexity Hypothesis (Jakubowicz/Nash 2001). Die dahinter stehende Idee ist, dass syntaktisch notwendige Kategorien leichter verarbeitet und damit erworben werden können, als semantisch modifizierende funktionale Kategorien.

Aber auch der Transfer im bilingualen Erstspracherwerb basiert möglicherweise auf einem ökonomischen Prinzip: Es werden stets die Strukturen bevorzugt, deren Verarbeitung mit weniger „Arbeitsaufwand“ verbunden ist (vgl. Müller 2006).

Friederici (2002) geht in ihrem 3-Phasen-Modell der Satzverarbeitung von einer Verarbeitungsstrategie aus, die auf Ökonomie beruht: So wird zunächst immer und automatisch auf Basis von Wortkategorie-Informationen die initiale syntaktische Struktur geformt (innerhalb von 100-300ms), die lexikalisch-semantische und morphosyntaktische Verarbeitung bzw. die Integration der verschiedenen Informationstypen erfolgt erst später (300-1000ms nach Stimulusonset).

Einen völlig anderen Blick auf den Spracherwerb bietet hingegen eine andere Grammatiktheorie, die in letzter Zeit sehr starken Zulauf in der Forschung erfahren hat und deren Ansatz, zumindest auf den ersten Blick, nicht allzu ökonomisch erscheint: die Konstruktionsgrammatik. Nach Adele Goldberg erfolgt der Spracherwerb nicht nativistisch, sondern über Nachahmung (Goldberg 2006). Wir nehmen sprachliche Einheiten als Form-Bedeutungs-Paare wahr und verankern diese beispielsweise über Frequenz und Generalisierung (entrenchment).
So bot Chomskys Annahme, die Strukturen und Regeln der peripheren Grammatik würden eben über Nachahmung erworben (Leiss 2009) letztendlich Raum für eine Theorie, die nun ein holistisches Programm des Imitationserwerbs proklamiert. Dies wiederum scheint doch gerade wieder einem ökonomischen Prinzip zu entsprechen: Wir folgen beim Erwerb sprachlicher Einheiten stets dem gleichen Weg. Auch wäre die Trennung zwischen Grammatik und Lexikon aufgehoben – was für ein ökonomischeres Verarbeiten im kognitiven Bereich spräche.
Ausgegangen wird hierbei nicht vom idealen Sprecher, sondern vom Sprecher als soziales Wesen, dessen Spracherwerb in hohem Maße kontextgesteuert ist. Dies ist eine Prämisse, die für die Romanistik von besonderem Interesse ist: Als ein wissenschaftliches Fach, unter dessen Dach eine Vielzahl mehrsprachiger Erwerbssituationen unter ebenso vielfältigen Perspektiven (Grammatik, Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit…) beobachtet und erforscht werden können, kann die romanische Sprachwissenschaft möglicherweise von einer stärkeren Annäherung an die KG profitieren.

Gerade im Bereich des Fremdsprachenerwerbs scheint, neueren Studien zufolge (z.B. Boas/ Ziem/ Ruppenhofer 2014, Handwerker 2009), dem Erwerb durch Konstruktionen im Sinne von Form-Bedeutungspaaren eine gewichtige Rolle zuzukommen. Hier wäre zu diskutieren, inwieweit die traditionellen Vorstellungen des Grammatikunterrichts zu revidieren wären, wenn dem Lexikon in der Tat eine derart zentrale Stellung zukommen oder die Grenze zwischen Lexikon und Grammatik möglicherweise gänzlich aufgehoben sein sollte (Leiss 2009). Diese Stärkung des Lexikons trat ja bereits in traditionellen Theorien, wie z.B. der Dependenzgrammatik auf, in der bereits Ansätze zu einer Integration von projektionistischen und konstruktionistischen Elementen vorhanden sind (Ágel/Fischer 2010). Auch Franz Josef Hausmanns Beobachtungen zur Verarbeitung von Kollokationen gehen in Richtung der Abspeicherung von größeren „Blöcken“ in einem Mentalen Lexikon.
In der Sektion soll versucht werden, ausgehend von der Überlegung, inwieweit Ökonomie das zentrale Movens bei Spracherwerbsprozessen ist, zu einer Diskussion über eine integrative Grammatiktheorie zu gelangen, die beide Betrachtungsweisen zusammen zu führen vermag – wie dies in verschiedenen Arbeiten bereits eingefordert wird (z.B. Jacobs 2008; Ziem 2008). Auf diese Weise ließen sich möglicherweise einige Fragen (z.B. Kollokationserwerb, linking,…) des Spracherwerbs effizienter und genauer beantworten (und damit im Sinne der Ökonomie auch gewinnbringend).

Besondere Beachtung sollen dabei folgende Themenfelder finden:
• GG versus KG – oder GG und KG?
• Rolle von Grammatik und Lexikon
• Rolle der Semantik
• Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb? Mehrsprachigkeitserwerb? Sprachpathologie?
• Problem der Datenbasiertheit
• Rolle soziolinguistischer Faktoren und des Kontexts
• Kollokationen und Phraseologismen beim Erwerb

Literatur in Auswahl:
ÁGEL, Vilmos/ FISCHER, Klaus (2010): „Dependency Grammar and Valency Theory.” In: Heine, Bernd / Narrog, Heiko (Hg.): The Oxford Handbook of Linguistic Analysis. Oxford: Oxford University Press, 223-255.
BURKHARDT, Petra (2005): The Syntax-Discourse Interface: representing and interpreting dependency. Amsterdam: John Benjamins.
BUSSE, Dietrich (2012): Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin/Boston: De Gruyter.
FRIEDERICI, Angela (2002): „Towards a neural basis of auditory sentence processing.” Trends in Cognitive Sciences, 6(2), 78-84
GOLDBERG, Adele E. (2006): Constructions at Work: the nature of generalization in language. Oxford: University Press.
HANDWERKER, Brigitte (2009): „Inputverarbeitung, Chunking und Konstruktionsgrammatik. Instrumente für den gesteuerten Erwerb des Deutschen als Fremdsprache“. In: Di Meola, Claudio / Gaeta, Livio / Hornung, Antonie / Rega, Lorenza (Hg.): Perspektiven Drei. Akten der 3. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien (Rom, Februar 2008). Frankfurt a.M. u.a.: Lang (= Deutsche Sprachwissenschaft international), 325 – 335.
HAUSMANN, Franz Josef/BLUMENTHAL, Peter (2006): „Présentation: collocations, corpus, dictionnnaires.“ In: Langue française 150, 3-13.
JACOBS, Joachim (2008): „Wozu Konstruktionen?” In: Linguistische Berichte 213, 3-44.
JAKUBOWICZ, Celia/NASH, Lea (2001): „Functional Categories and Syntactic Operations in (Ab)normal Language Acquisition.“ In: Brain & language 77 (2001) 3, 321-339.
LEISS, Elisabeth (2009): „Konstruktionsgrammatik versus Universalgrammatik“. In: Eins, Wieland et al. (Hg.): Wie wir sprechen und schreiben: Festschrift für Helmut Glück zum 60. Geburtstag. Wiesbaden: Harrassowitz, 17-28.
LEVELT, Willem J. (1989): Speaking: from Intention to Articulation. Cambridge, Mass. [u.a.] : MIT Press.
MEISEL, Jürgen (2000): „On Transfer at the Initial State of L2-Acquisition.“ In: Arbeiten zur Mehrsprachigkeit 1, Folge B, 1-20 (= Sonderforschungsbereich 538, Mehrsprachigkeit).
MEISEL, Jürgen (2011): First and second language acquisition: parallels and differences. Cambridge [u.a.]: CambridgeUniversityPress.
MÜLLER, Natascha (2006): Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung: Deutsch – Französisch – Italienisch. Tübingen: Narr.
ZIEM, Alexander (2008): Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin/New York: de Gruyter.
ZIEM, Alexander/BOAS, Hans C./RUPPENHOFER, Josef (2014): „Grammatische Konstruktionen und semantische Frames für die Textanalyse“. In: Hagemann, J./ Staffeldt, S. (Hg.): Syntaxtheorien. Analysen im Vergleich. Tübingen: Stauffenburg. 297-333.

Beitrag von: Johanna Wolf

Redaktion: Christof Schöch